Cäsur [heutige Schreibweise: Zäsur] (Einschnitt). Ein aus der Poesie in die Musik herübergenommener Ausdruck, welcher einen stets auf einen guten Taktteil fallenden, rhythmischen Ruhepunkt, insbesondere den rhythmischen Endpunkt sowohl der größeren als kleineren Teile der Melodie bezeichnet.
Die Zäsur hat in der Musik, ihrer ursprünglichen Bedeutung im Versbau entsprechend, ebenfalls durchaus nur rhythmische Geltung. Wie sie in der Poesie keineswegs die logische oder interpunktische Gliederung des Verses vollzieht (die Zäsur darf mitten in einen Satz hinein fallen), sondern eben nur als rhythmischer Halt anzusehen ist, auf welchen wiederum eine gewisse Anzahl von Füßen erfolgt, so hat sie auch in der Musik mit Bestimmung der Teile in Bezug auf melodische Gliederung nichts zu tun, sondern bezeichnet nur deren rhythmische Beschaffenheit. Zur Bezeichnung der kleinen Teile einer Melodie in Bezug auf ihre melodischen Endpunkte bedient man sich, zum Unterschiede von der rhythmischen Zäsur, des deutschen Wortes Einschnitt. Kirnberger (Kunst des reinen Satzes II. 142) und mit ihm Sulzer (Theorie der schönen Künste, Art. Einschnitt) nennen ein solches melodisches Glied, welches wir eben als Einschnitt bezeichneten, Zäsur, und gebrauchen den Ausdruck Einschnitt für die größeren Glieder der Periode, die sonst den Namen Absatz oder Satz führen. Die Benennungen Absatz und Periode gebraucht Sulzer gleichbedeutend.
Das rhythmische Ende oder die Zäsur ist nicht immer zugleich die Schlussnote eines melodischen Teiles; deshalb hat man wohl den Ausdruck Zäsur aus der Poesie entlehnt, um damit den rhythmischen Endpunkt eines Satzes von dessen melodischem Endpunkte zu unterscheiden. Einige Beispiele werden diesen Unterschied deutlich machen. In den Sätzen 1a und 1b fällt die (mit + bezeichnete) Zäsur mit der melodischen Endnote zusammen:
Zäsur (Dommer 1865)
Ganz anders aber verhält es sich, wenn die Melodie, wie unter Beispiel 1c, über die Zäsur hinausgeht, oder (2a) einen weiblichen Ausgang hat; oder wenn (Beispiele 2b, 2c) der melodische Endpunkt auf ein noch entfernteres, einen Nebenakzent habendes (2b) oder völlig akzentloses Taktglied (2c) trifft.
Zäsur (Dommer 1865)
Bei den voranstehenden Sätzen 1c und 2a, 2b, 2c überzeugt uns das Gefühl, dass das rhythmische Ende derselben auf die mit + bezeichneten Noten fällt, ungeachtet ihr melodisches Ende erst eine oder einige Noten später erfolgt. Dass aber die Zäsur keinen schlechten Taktteil treffen darf, sondern auf den Taktakzent fallen muss, ist dadurch bedingt, dass sonst ein Widerspruch zwischen dem grammatikalischen und rhythmischen Akzent entsteht. In nachstehender Melodie, Beispiel 3, sind in der oberhalb des Systems angezeichneten Akzentuation und Takteinteilung diejenigen Noten, die der Natur dieser Melodie gemäß den grammatikalischen Akzent erhalten, und, weil ihnen der rhythmische Nachdruck eigen ist, auf den guten Taktteil gebracht werden müssen, in den entgegengesetzt akzentlosen Taktteil gebracht. Es müsste daher dieser Satz den natürlichen Regeln des rhythmischen Vortrages entgegen ausgeführt, der Akzent auf den schlechten Taktteil gerückt werden. Denn wollte man die in dieser unrichtigen Notierung desselben auf die guten Taktteile fallenden Noten akzentuieren, so würde unserem rhythmischen Gefühl Zwang auferlegt. Man sieht aber sogleich, dass dieser Widerspruch zwischen dem grammatikalischen Akzent des Taktes und dem rhythmischen der Melodie nur entstanden, weil der Satz falsch in den Takt gebracht ist. Nehmen wir die Takteinteilung mit dem Auftakt anhebend, wie sie durch die Striche unterhalb des Systems angedeutet worden, so ist dem Übel abgeholfen.
Zäsur (Dommer 1865)
Daher die Regel, dass die Zäsuren der Tonschlüsse in melodischen Einschnitten und Absätzen etc. stets auf den guten Taktteil fallen müssen. Zwar kommen Abweichungen davon vor, in denen Rückungen des Akzentes stattfinden. Doch sind sie nicht Ausdruck des eigentlich Naturgemäßen, sondern bereits eines Besonderen, wie schon unter Akzent (Akzentrückungen) näher erklärt ist, und heben darum die Regel nicht auf. In manchen Tanzmelodien namentlich erlaubt man sich diese Ausnahme. Die Polonaise (siehe dort) hat sogar die Zäsuren der größeren und kleineren melodischen Teile stets auf schlechten Taktteilen. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 122f]