Musiklexikon: Was bedeutet Tonmalerei?

Tonmalerei (1882)

Tonmalerei nennen wir die malende Schilderung äußerer Vorgänge durch Töne. Es ist dies allerdings zunächst nicht Aufgabe der Musik. Als Kunst der Innerlichkeit soll sie nur dem Ausdruck derselben
dienen. Allein diese selbst wird so stark von der Aussenwelt beeinflusst, diese ragt so bedeutsam in die Phantasie, die eigentliche Geburtsstätte des Kunstwerks hinein, dass sie auch häufig einen ganz wesentlichen Anteil an der Gestaltung desselben nehmen muss. Die Welt der Wirklichkeit, durch welche bekanntlich die Phantasie die mächtigste Anregung zum Bilden und Schaffen erhält, ist so mit natürlichem Sang und Klang erfüllt, dass beide sich auch dem Kunstwerk aufprägen, welches der so angeregten Phantasie entstammt. Wenn es auch als irrig bezeichnet werden muss, dass die Musik eine Nachahmung des Singens und Klingens in der Natur ist, so ist doch nicht abzuleugnen, dass dies vielfach auf die Entwickelung der Musik einflussreich wurde. Es ist falsch, dass die Menschen von den Vögeln das Singen erlernten, denn sie folgten dabei ebenso dem natürlichen Triebe wie diese und sie wurden ebenso durch einen natürlichen Organismus dazu befähigt. Aber ohne Einfluss konnten alle die in der Natur laut werdenden Stimmen, konnte das Rollen des Donners, das Säuseln des Windes, das Rauschen des Wassers auf die Entwickelung des Gesanges und die Musik nicht bleiben. Wenn schon die äußere Umgebung, wenn klimatische Einflüsse, wenn Bodenbeschaffenheit und die dadurch bedingte Beschäftigung auf Laut- und Sprachbildung von Einfluss werden, so mussten es die wirklichen Musikelemente, welche in der Natur als solche schon vorhanden sind, erst recht sein, und sie fanden auch ganz direkt Eingang in die künstlerischen Äußerungen auf diesem Gebiete.

Es ist dies schon am Volksliede und den mehr instinktmäßig sich äußernden Regungen des künstlerisch schaffenden Menschengeistes nachzuweisen. Durch die Instrumentalmusik gewann dieser Zug nach möglichst realistischer Naturmalerei ganz besonders die reichste Nahrung. Diese brachte noch ganz andere und viel entsprechendere Mittel für Tonmalerei als der Gesang, und sie bediente sich ihrer bald in ausgedehntem Maße. Hierzu gaben die dramatischen Versuche beim Beginn des 17. Jahrhunderts die nächste und passendste Gelegenheit. Wenn die Musik bei der Oper einen äußeren Vorgang zu begleiten oder wenn sie einen solchen im Oratorium mit ersetzen helfen soll, so wird sie durch diesen Vorgang ganz naturgemäß beeinflusst werden. Dieser wird in der Phantasie des schaffenden Tondichters eine Musik erzeugen, welche auch in der Phantasie des Hörers denselben Vorgang entstehen lässt. Die Musik tritt deshalb hinzu mit ihren reichen Mitteln, um die Wirkung auf den Zuhörer zu erhöhen; sie darf sich demnach keinen Moment entgehen lassen, diese Aufgabe zu erreichen, und in diesem Sinne ist die Tonmalerei geboten. Wenn diese betreffenden Vorgänge selbst schon musikalische Momente in sich bergen, wenn sie mit Waldesrauschen und Bachesriesein, mit Herden- und Glockenklang oder mit dem Rollen des Donners, mit Sturm und Gewitter u. dgl. zusammenhängen, dann ist es um so leichter, der Phantasie zu Hilfe zu kommen, und die Tonmalerei ist ganz unabweislich. [Reissmann Handlexikon 1882, 566f]