Musikalische Ästhetik (1882)

Ästhetik, musikalische, ist die spekulative Theorie der Musik im Gegensatz sowohl zu der für die Praxis berechneten Musiktheorie im engeren Sinn (Harmonielehre, Kontrapunkt, Kompositionslehre) als auch zu der naturwissenschaftlichen Untersuchung der Klangerscheinungen und Gehörsempfindungen (Akustik und Physiologie des Hörens). Die musikalische Ästhetik ist ein Teil der Ästhetik oder Kunstphilosophie überhaupt und hat zur Aufgabe die Ergründung der Prinzipien des Musikalisch-Schönen, die Untersuchung des Verhältnisses von Inhalt und Form in der Musik sowie die Entwicklung der Gesetze für die musikalische Formgebung. Ferner hat dieselbe zum Gegenstand die Feststellung des Anteils der Musik an der Wirkung gemischter Kunstformen, z. B. der Vereinigung von Musik und Poesie (Vokalmusik) oder auch noch als dritter der darstellenden Kunst (Oper).

Die Frage, ob Musik etwas darstellen könne, beschäftigt, im verneinenden Sinn angeregt von Ed. Hanslick (1854), noch immer die musikalischen Ästhetiker; von ihrer Bejahung hängt bekanntlich die Bejahung der sog. Programmmusik ab. Wie die neueren Philosophen überhaupt mehr und mehr den Zusammenhang mit der exakten Wissenschaft anstreben und daher ihr Haus nicht mehr von oben herunter, sondern von unten hinauf bauen, so fangen auch die musikalischen Ästhetiker an, das frühere allgemeine Räsonnement über Kunstformen, Stile etc. aufzugeben und dem Wesen der Musik auf den Grund zu gehen, d. h. über die elementare Bedeutung des Melodischen, Rhythmischen und Harmonischen nachzudenken. Dabei ergibt sich zunächst, dass das Prinzip des Melodischen die Tonhöhenveränderung ist, und zwar nicht die abgestufte, sondern die stetige, allmähliche; das Steigen der Tonhöhe erscheint als Steigerung, Anspannung, es regt auf, treibt an, reißt mit sich fort, während umgekehrt das Fallen der Tonhöhe beruhigt, als Nachlassen, Abnehmen, Verminderung erscheint. Das Steigen der Tonhöhe erscheint als eine positive Bewegungsform, das Fallen als eine negative. Als Prinzip des Rhythmischen ergibt sich die Gliederung des zeitlichen Verlaufs der Töne in kleine, aber deutlich unterscheidbare Abschnitte; die Tatsache, dass es für unser Empfinden einen mittleren Geschwindigkeitsgrad der Folge der Zeiteinheiten gibt, welcher uns weder als schnell noch als langsam erscheint, zwingt zu der Annahme, das es irgend einen Maßstab in uns gibt, nach dem wir messen. Wahrscheinlich ist das der Pulsschlag; das Bestreben, als Zeiteinheit (fürs Taktieren, Zählen oder still Gliedern) immer einen Wert zu nehmen, welcher sich innerhalb der Grenzen der möglichen Pulsgeschwindigkeiten hält (60-120), spricht sehr für diese zunächst vielleicht absonderlich scheinende Annahme. Die verschiedenartige Wirkung verschiedener Tempi nicht nur, sondern auch der verschiedenartigen Figurationen sowie der punktierten Rhythmen, überhaupt aller rhythmischen Motive, ist hiernach leichtbegreiflich [sic]. Das Schnellere ist Steigerung, regt auf, das Langsamere beruhigt. In ganz ähnlicher Weise wirkt auch die verschiedene Tonstärke mit elementarer Gewalt; das Crescendo ist wie melodisches Steigen und rhythmische Beschleunigung eine Steigerung (positive Bewegungsform), das Diminuendo dagegen ein Zurücksinken (negativ).

Ganz andrer Art sind die Prinzipien der Harmonik; ihre Gesetze sind allgemeine Gesetze der Denktätigkeit, ihre Wirkungen nicht mehr elementare, sondern mittelbare, bedingte, ihre Wirkungsmittel nicht mehr natürliche, sondern kunstmäßig zubereitete (vgl. Klang, Tonalität). Doch haben vermöge der Untrennbarkeit des Harmonischen vom Melodischen (die Töne der Harmonien haben verschiedene Höhe, nicht nur im Nacheinander, sondern auch im Miteinander) die elementaren Wirkungen des Melodischen auch ihren Anteil an der Wirkung der einfachsten harmonischen Mittel (Dur- und Moll-Konsonanz). Jene elementare Wirkung der melodischen, rhythmischen und dynamischen Steigerung und ihres Gegenteils bedeutet für unser Empfinden ganz ähnliche Erschütterungen des seelischen Gleichgewichts, wie sie Affekte hervorbringen, und kann daher vom Tonkünstler mit Glück zur Erzeugung bestimmter seelischer Dispositionen verwendet werden, sei es, dass dadurch die durch ein Gedicht (Lied) oder eine szenische Handlung (Oper) hervorgerufenen Affekte verstärkt, oder dass mit Hilfe eines als Erklärung beigegebenen Programms durch die Musik allein bestimmte Vorstellungen erweckt werden sollen. Im letzteren Fall stehen indes die eigenen Bildungsgesetze der Musik als Kunst obenan (vgl. Formen). da andre Mittel für eine strenge Wahrung der Einheit der kunstmäßigen Gestaltung fehlen. Die Resultate dieser Betrachtungen erweisen allerdings die Programmmusik als eine durchaus erklärliche und berechtigte Kunstgattung, die aber ins Gebiet der gemischten Kunstformen gehört, in welcher daher das rein Musikalische nicht am vollkommensten zur Geltung kommt. Die hohe läuternde Kraft der reinen (absoluten) Musik liegt darin, dass sie gegenstandslose Affekte erweckt; ihr durch ein bestimmtes Programm ihre Allgemeinheit nehmen, heißt durchaus nicht ihre Wirkung intensiver machen, sondern sie aus dem Bereich des reinen Seelenlebens in die reale Wirklichkeit ziehen.

Die wichtigsten neueren Werke über musikalische Ästhetik sind von Fechner, Lotze, Hanslick, Hostinsky (vgl. die betreffenden Biographien). [Riemann Musik-Lexikon 1882, 47f]