Stimmführung (1882)
Stimmführung nennt man den musikalischen Satz in Bezug auf die Behandlung der einzelnen denselben hervorbringenden Stimmen. Man hat dabei scharf zu unterscheiden den Satz mit realen Stimmen, welcher für Singstimmen selbstverständlich und auch für Streich- und Blasinstrumente (besonders Holzblasinstrumente) gewöhnlich ist, und den freien Stil, der, besonders in [um 1880] neuerer Zeit, für die Tasteninstrumente und für das volle Orchester zur Anwendung kommt. Jenen nennt man wohl auch den gebundenen Stil oder den strengen Stil, doch versteht man unter strengem und freiem Stil auch die größere oder geringere Gewissenhaftigkeit in der Vermeidung sogenannter unsangbarer Stimmschritte im gebundenen Stil.
Reale Stimmen sind solche, welche sich durch ein ganzes Tonstück oder einen Teil oder eine größere Anzahl Takte hindurch wohl unterscheidbar und selbständig fortbewegen, so dass sie als musikalische Individuen erscheinen. Das eigentliche Leben des musikalischen Satzes pulsiert in ihnen. Gänzlich ihrer entbehren kann auch der freie Stil nicht. Derselbe bedient sich aber außer der realen Stimmen noch vieler Füll- oder Hilfstöne, für welche man von eigentlicher Stimmführung nicht reden kann, wenn man auch von Füllstimmen spricht.
Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass als Füll- oder Hilfstöne nur solche angesehen werden können, welche auch in einer realen Stimme vorhanden sind. Wenigstens wird jede nachlässige Behandlung von Tönen, bei denen dies nicht der Fall ist, Unlust erwecken, d. h. ästhetisch fehlerhaft sein. Man muss darum sowohl im Klaviersatz mit der Einstreuung vollerer Akkorde als im Orchestersatz mit der sogenannten "Aufsetzung von Drückern", d. h. der Anwendung vollerer Instrumentierung für einzelne Akzente, sehr vorsichtig verfahren und immer bedenken, dass, wenn die Einsätze der Fülltöne nicht in großen Zwischenräumen (zeitlich) geschehen, das Ohr dieselben in Beziehung zueinander setzt und ähnliche Verhältnisse fordert, wie sie für reale Stimmen unerlässlich sind.
Auch die sogenannte Mehrstimmigkeit durch Brechung erfordert ähnliche Rücksichten; man versteht darunter den Schein von Mehrstimmigkeit, den eine einzelne Stimme dadurch hervorbringt, dass sie sich vielfach in weiteren Intervallschritten bewegt (in gebrochenen Akkorden), z. B.:
Ja, sogar bei fortgesetzter Sekundfortschreitung der Melodiestimme treten solche Wirkungen zu Tage, da bei wiederholtem Steigen und Fallen die Spitzen und tiefsten Senkungen aufeinander bezogen werden. Es wird deshalb oft fehlerhaft erscheinen, wenn die Melodie zum Leitton aufsteigt, aber nicht auch den Leittonschritt ausführt. Der Leitton bleibt dann, wie man zu sagen pflegt, in der Luft hängen.
Das Wichtigste der Lehre von der Stimmführung lässt sich in wenige Worte zusammenfassen. Die Seele der Stimmführung ist die Sekundfortschreitung. Der Satz erscheint um so glatter, vollkommener, je mehr die Akkordfolgen durch Sekundschritte der einzelnen Stimmen bewerkstelligt werden. Selbst harmonisch sehr schwer verständliche Folgen geben sich mit einer gewissen Ungezwungenheit, wenn alle oder die meisten Stimmen Sekundschritte machen, seien diese Ganztonschritte, Leittonschritte oder chromatische Halbtonschritte, z. B.:
Ein vorzügliches Bindemittel einander folgender Akkorde ist ferner das Liegenbleiben gemeinsamer Töne. Eine Ausnahme macht die Führung der Bassstimme, welche gern von Grundton zu Grundton der Harmonien fortschreitet und wesentlich der Förderung des harmonischen Verständnisses dient. Auch von Hauptton zu Terzton und von Terzton zu Terzton oder Hauptton geht der Bass gern, dagegen ist der Sprung der Bassstimme zum Quintton mit Vorsicht zu behandeln (siehe Quartsextakkord und Konsonanz). Überhaupt ist aber die Sekundbewegung zwar erstrebenswert, aber keineswegs immer erreichbar, und gerade die Stimme, welche zumeist frei und zuerst erfunden wird, die eigentliche Melodiestimme (in der neueren Musik gewöhnlich die Oberstimme), unterbricht die Sekundbewegung gern durch größere, sogenannte harmonische Schritte. Da solche Schritte, wie bereits bemerkt, den Effekt der Mehrstimmigkeit durch Brechung machen, so sind sie eine Bereicherung des Satzes, es blüht sozusagen eine zweite Stimme aus der einen heraus (im Orchester- und Klaviersatz geschieht das oft genug wirklich).
Gewisse Stimmschritte, die harmonisch schwerverständlich und darum schwer rein zu treffen sind, vermeidet der Vokalsatz gern (der "strenge" Stil vermeidet sie ganz), nämlich die übermäßigen Schritte (Tritonus, übermäßiger Sekundschritt etc.) und den verminderten Terzschritt ([z. B.] cis-es). Die in allen Lehrbüchern der Harmonie zu findenden Regeln, dass der Leitton einen kleinen Sekundschritt nach oben machen und die Septime nach unten fortschreiten müsse, sind nur bedingungsweise richtig. Wo der Leitton im Dominantakkord auftritt und dieser schließend sich zur Tonika fortbewegt, wird natürlich der Leittonschritt gemacht werden, weil überhaupt Halbtonfortschreitungen überall zu machen sind, wo sich Gelegenheit bietet und dadurch nicht gegen eine andere Satzregel verstoßen wird. Deshalb wird auch die Septime in den Fällen gern nach unten fortschreiten, wo sie einen fallenden Leittonschritt (Leitschritt im Mollsinn) ausführen kann, z. B. wo sich der Dominantseptimenakkord in die Durtonika auflöst:
In diesem Fall ist sowohl der steigende Leittonschritt h'-c'', als der fallende f'-e' obligatorisch, und nur in Ausnahmefällen wird von einem von beiden abzusehen sein. Dagegen ist kein Grund vorhanden, warum in Akkorden wie h-d-f-a oder c-e-g-h die Septime sich abwärts bewegen sollte, wenn nicht Gefahr der Quintenparallelen oder dergleichen dazu zwingt. Es wird immer darauf ankommen, was für eine Harmonie folgt. Enthält dieselbe die Oktave des Grundtons, so wird die Septime meist steigen. Die Regel der abwärts zu führenden Septime wie des aufwärts zu führenden Leittons ist also nichts anderes als ein praktischer Fingerzeig, weil bei den gewöhnlichsten Akkordfolgen sich diese Stimmführung als eine bequeme ergibt. Dagegen sind von höchster Bedeutung für die Stimmführung die negativen Gesetze: Das Quintenverbot und Oktavenverbot (siehe Parallelen). [Riemann Musik-Lexikon 1882, 881ff]