Reiner Satz (1882)

Reiner Satz, Bezeichnung für die insbesondere harmonische Schreibweise, welche genau nach den Regeln der Tonsetzkunst erfolgt. Diese beziehen sich auf den Gesang und sind vornehmlich auf eine bequeme, natürliche Sangbarkeit und Stimmführung, wie auf höchsten Wohlklang der Gesamtwirkung aller verbundenen Stimmen gerichtet. Diese Regeln basieren auf einer genauen Kenntnis der ausführenden Organe einer- und der dadurch erzeugten Klänge andererseits, und sie müssen nicht nur dem Schüler, sondern auch dem Meister immer als Richtschnur gelten. Allein gerade in Bezug auf Sangbarkeit und mehr noch auf Wohlklang ist es schwer, eine bestimmte Grenze zu ziehen. Manchem Organ ist noch vollauf sangbar, was anderen nur mit Schwierigkeiten gelingt, auszuführen; dem einen erscheint noch wohllautend, was dem anderen schon Unbehagen bereitet. Wie es aber weiterhin nicht die Aufgabe des Kunstwerks sein kann, nur sinnlich zu reizen, sondern einen Inhalt zu vermitteln, so soll auch das Gesangstück nicht nur durch Wohlklang reizen, sondern es soll Phantasie, Herz und Geist anregen, und dazu sind nicht bloß schöne, sondern auch charakteristische Klänge erforderlich.

So unverständig es nun erscheint, die aus der für alle Zeiten gültigen Gesangspraxis erwachsenen allgemeinen Gesetze des vokalen Kunstwerks zu verletzen oder gar aufheben zu wollen, so töricht ist es auch, diese aus den Kunstwerken gewisser Epochen, die längst vergangen sind, und mit ihnen Bedürfnis und Geist derselben, welche die Kunstwerke schufen, ableiten zu wollen. Auch der A-Capella-Gesang des 19. Jahrhunderts erfordert einen anderen reinen Satz, als der des 16., welcher in Palestrina seinen Höhepunkt gewonnen hat. Es ist falsch, den Instrumentalsatz auf das vokale Gebiet übertragen zu wollen, aber ebenso falsch ist es auch, die erhöhte Gesangsfähigkeit unserer Zeit unberücksichtigt zu lassen. (Die Regeln des reinen Satzes sind in verschiedenen Artikeln, wie: Kontrapunkt, Harmonie, Modulation, Vorhalt, Oktave, Quarte, Quinte usw. erörtert.) [Reissmann Handlexikon 1882, 423]