Cantate, Cantata (1865)
Cantate [Kantate], Cantata (cantare: singen; Singgedicht, Singstück). Eine zur Vokalmusik gehörende Gattung von Tonwerken, und zwar, dem gewöhnlichen gegenwärtigen [um 1865] Begriff nach, ein mehrsätziges, aus Chören, Arien und Rezitativen bestehendes und vom Orchester begleitetes Vokalwerk.
Diesem Begriff entspricht aber nur eine und zwar die jüngste Art der Kantate, nämlich die aus Bachs Kirchenmusiken her bekannte Große Kantate, der aber noch zwei andere wesentlich von ihr verschiedene Arten vorausgegangen sind, wodurch der Allgemeinbegriff dieser Formgattung etwas schwierig zu bestimmen wird. Beziehentlich auf die verschiedenen Entwicklungsstadien findet man sie bei dem einen Schriftsteller als ein kleines einstimmiges lyrisches, bei einem anderen als ein langes dramatisierendes und bei einem dritten als ein mit dem Oratorium fast identisches Tonwerk erklärt. Bald erscheint sie als ein vom Lied oder der Ode nicht viel sich unterscheidendes Tonstück, bald und vorzugsweise als lyrisch in dramatischer Form, mit oder ohne Beimischung epischer Elemente; rein einstimmig ebenso gut wie mehr- und vielstimmig, desgleichen einsätzig oder von odenartig wechselnder Bewegung; meist aber für ein oder mehrere Stimmen abwechselnd und in mehrere Sätze von verschiedener Art (Chöre, Arien, Duette, Rezitative) geteilt.
Alle Arten der Kantate haben, neben dem, dass sämtliche von Instrumenten begleitet werden, Dichtungen lyrischen Inhalts miteinander gemein. Ungeachtet sie, wenn rein einstimmig, wenigstens in dramatisierenden Ausdruck, und wenn von größerer Anlage und mehrstimmig, in ganz dieselben dramatischen Einzelformen sich kleidet wie das wirkliche musikalische Drama, so bleibt doch zwischen diesem und der nur dramatisierenden Kantate immer der wesentliche Unterschied: Die Empfindungen und deren Ausdruck im wirklichen musikalischen Drama wurzeln stets in wirklichen oder als wirklich gedachten Handlungen – gleichviel ob diese auf der Bühne (Oper) oder nur singend (Oratorium) dargestellt werden – und sind stets durch das Wesen einer bestimmten handelnden oder leidenden Person bedingt. Die Kantate hingegen drückt nur Empfindungen aus, die entweder durch Schilderungen von Handlungen anderer oder durch große Ereignisse, Heldentaten, Naturschauspiele selbst, oder durch Betrachtungen über die göttliche Herrlichkeit, sittliche Gegenstände und andere Dinge von Gehalt veranlasst werden. Die Kantatendichtung entnimmt ihre Stoffe allen Gebieten und Zeiten sowohl überirdischen als irdischen, der christlichen Religion oder der heidnischen Götterlehre, der Heldensage und anderen geschichtlich hervorragenden Begebenheiten, und ebenso gut der entferntesten Vergangenheit als der Gegenwart. Dass Verherrlichen bedeutender Ereignisse oder Personen ist ihre wesentlichste Aufgabe; und auch nur Vorstellungen von bedeutenden Dingen sind im Stande, Gefühl und Phantasie in solchen Schwung zu setzen, dass sie zur dramatisierenden Ausdrucksweise sich veranlasst sehen. Übrigens ist die Lyrik, schon weil sie auf eben erwähnte Art angeregt wird, keineswegs mehr so rein persönlich wie im Liede, sondern bereits allgemeinerer Natur und objektiver auf etwas außerhalb der eigenen Person Liegendes, das für viele Bedeutung hat, gerichtet.
Zuweilen werden Oratorium und Kirchenkantate als zusammengehörend, jenes unter dieser mitbegriffen, angesehen – ein Missverständnis, welches aus der Schwankung der Begriffe und dem Verkennen beider Gattungen von Tonwerken entspringt. Manche Oratorien nähern sich zwar der Kantate, sofern ihnen nicht wirkliche fortschreitend sich entwickelnde Handlungen und Ereignisse unterliegen (denen darum aber noch nicht etwa der ideale Zusammenhang fehlt), sondern indem sie auch nur als in dramatische Form gekleidete Kundgebungen lyrischer, durch große Taten, Wunderwerke etc. der göttlichen Macht erweckter Gefühle anzusehen sind (Messias). Und wiederum kommen mit der Benennung Kirchenkantate Werke vor, die der Breite und Umfänglichkeit nach dem Oratorium sich nähern. Einzelner hinüberspielender Exemplare wegen fallen aber zwei sonst getrennte Gattungen noch nicht zusammen. Übrigens nehmen es die Komponisten selbst nicht immer genau mit den ihren Werken eigentlich zukommenden Gattungsnamen, daher sie denn selbst mit dazu beigetragen haben, manche Formbegriffe noch schwankender und unbestimmter zu machen. Das Oratorium aber ist erstlich keine speziell kirchliche, sondern eine durchaus eigene, zwischen Kirchlichkeit und Weltlichkeit die Mitte haltende Kunstgattung, zwar von biblisch geschichtlichem Inhalt, aber von weit mehr auf Seiten der dramatischen als kirchlichen Musik stehendem Stil, welcher keineswegs, wie doch die Kirchenmusik, Darstellungen menschlicher Leidenschaften ausschließt, überhaupt eine eigene Stilgattung für sich ausmacht, die man nicht anders als Oratorienstil nennen kann, und welche von der, namentlich in den Chören mehr zum kunstreichen Motettenstil neigenden Schreibart der Kantate wesentlich abweicht. Zweitens enthält es doch für gewöhnlich die Ereignisse und Handlungen selbst (wenn auch in nur gedachter, nicht sichtbarer Gegenwart), die Kantate hingegen nur die durch solche erregten lyrischen Empfindungen. Personen von Namen und Charakter, wie im Oratorium, gibt es in der Kantate nicht. Höchstens gelangt hier die Personifikation etwa bis zur "frommen Seele" in der Kirchenkantate, die aber nichts ist als nur eine die Gefühle und Anschauungen der Gemeinde repräsentierende Stimme.
Nach Hauptmomenten der Entwicklung unterscheiden wir drei Arten der Kantate, nämlich die rein einstimmige, odenartige, die bereits an mehrere Personen verteilte Kammerkantate und die mit Chören und voller Instrumentalmusik verbundene Große Kantate. Einer weiteren Scheidung in geistliche und weltliche bedarf es kaum, denn wesentliche, äußerlich formale Unterschiede ergibt diese Teilung nicht, die innere Verschiedenheit aber versteht sich von selbst. Doch haben geistliche und weltliche Kantaten hinsichtlich des Stils miteinander gemein, dass er bei beiden ins Großartige und Prächtige geht, weil beide doch immer eine Verherrlichung oder Feier zur Absicht haben. Auch die Trauerkantate zeichnet sich durch Pathos aus und verschmäht eine wirksam dramatisierende Form im Ganzen keineswegs. Imgleichen lieben, wie schon soeben angedeutet, alle Arten Kantaten den kunstvollen Satz und haben hierin den Einflüssen des Madrigals und der Motette, obgleich jenes wesentlich mit durch die Kammerkantate verdrängt wurde, sich nicht entziehen können. Eine übergroße Ausdehnung dürfen sie nicht gut annehmen, indem die meisten Kantaten doch mehr durch besondere Gelegenheiten (Festlichkeiten etc.) hervorgerufene als rein auf sich gestellte Werke sind, daher für sich allein eine gar zu lange Zeit nicht beanspruchen dürfen. Die einzelnen Sätze aber, namentlich die Chöre, haben gewöhnlich eine gewichtige und voll entwickelte Form von kunstreich kontrapunktischer Durchbildung, ähnlich der alten Motette, an die man sich überhaupt erinnert zu haben scheint, als man den Chor in die Kantate aufnahm. Denn die Chöre auch in der Kantate pflegen weniger dramatisches Wesen zu haben, schon die künstlich [sic] kontrapunktische Behandlungsweise entspricht einem solchen nicht, und wenn man den Chor auch herübergenommen hat, um die ganze äußere Form im dramatischen Sinne abzurunden und zu vervollständigen, so schloss man sich in Betreff seiner inneren Durchbildung, namentlich in der Kirchenkantate, doch unwillkürlich der Motette an. Das dramatische Element der Kantate liegt mehr in der ganzen Form, dem Wechsel von Rezitativen, Arien und Chören, als speziell in den letzteren.
Ursprünglich stammt die Kantate aus Italien. Ihre Entstehungszeit fällt bald nach Befreiung der Einzelmelodie aus der Mehrstimmigkeit, als man nach bestimmterem Ausdruck durch Einzelgesang zu streben angefangen hatte, also bald nach Erfindung der Monodie um 1600. Wer die ersten Kantaten überhaupt geschrieben hat, scheint nicht bestimmt zu sein. Eine venetianische Tonkünstlerin, Barbara Strozzi, gab um 1653 "Cantate, Arie e Duetti" heraus, in deren Vorwort sie die Erfindung solcher mit Rezitativen und Arien untermischten Solosätze für sich in Anspruch nimmt. Burney erklärt aber, in dem um 1638, also bereits 15 Jahre früher erschienenen Werke "Musiche varie a voce sola" des Dichters und Komponisten Benedetto Ferrari das Wort Cantata über einer kurzen erzählenden lyrischen Poesie zuerst gefunden zu haben. Für den Erfinder der mehrsätzigen und mehrstimmigen Kammerkantate gilt Carissimi, der auch dem Rezitativ einen leichteren und fließenderen Gang verlieh und es dem natürlichen Redeakzent näher brachte, ferner mit der Motette Instrumentalmusik verband und in die Kirche einführte und von 1635-1672 zu Rom in hohem Ansehen stand. Doch soll er seine Kantate nur auf geistliche Texte für die Kirche angewendet, sein Schüler Marc Antonio Cesti sie aber auch auf das Theater übertragen und in sehr großer Anzahl komponiert haben. Die Kammerkantate ist alsbald sehr beliebt geworden und hat dem Madrigal vielen Abbruch getan.
Die erste der drei vorhin genannten Arten, die rein einstimmige Kantate, haben wir uns als eine Art durchkomponierter Ode zu denken, einem lyrischen Text dramatisierenden Ausdruck verleihend, aber nicht so abgeschlossen in einer Stimmung verharrend wie das Lied, sondern reicher an bestimmter ausgeprägten Nebenstimmungen und wechselnden Bildern des Ausdruckes, wodurch der an sich lyrische Stoff doch eine Art innerer dramatischer Entwicklung durchmacht und auch äußerlich Veranlassung zur Teilung in mehrere Sätze oder Gruppen von verschiedener Bewegung gegeben ist; etwa wie im Liederkreis, nur mehr dramatisierend, Gesang mit rezitierenden und ariosen Partien abwechselnd. In der Kammerkantate sind Ausdrucksmittel und Form erheblich erweitert und bereichert durch das Zusammentreten mehrerer Solostimmen, die jedoch, wie schon erinnert, keine Personen, sondern nur Stimmen sind. Aber in solcher mannigfaltigeren Gruppierung mehrerer Stimmen entfaltet sich ein höheres dramatisches Leben, indem Arie und Rezitation mit mehrstimmigen Solosätzen wechseln können.
Diejenigen Kantaten, in denen eine Arie zu Anfang, in der Mitte und am Ende stand, scheinen am meisten beliebt gewesen zu sein. Andere fingen auch mit einem Rezitativ an und haben ebenfalls eine gute Wirkung gemacht. Übrigens hatte die Kammerkantate, ungeachtet aller dramatischen Absicht und Haltung, noch nichts von der Instrumentalpracht der späteren Großen Kantate, sondern war eigentlich rein Gesangstück, nur von Bass und Klavier begleitet. Ihr Stil war, ungeachtet des freieren Ausdruckes in der Melodie, kunstvoll. Als nun zur Kammerkantate noch der Chor und volle Instrumentalmusik hinzutraten, entstand die Große Kantate, welche in der Kirchenmusik zu Bachs Zeit in vollster Blüte stand und in unglaublicher Menge auf die Feste des Kirchenjahres, und außerhalb der Kirche zur Feier bedeutenderer Ereignisse, komponiert worden ist, und in der wir auch das Händelsche Anthem, nur unter anderem Namen und mit dem Unterschied, dass dieses nur der Kirchenmusik angehört, im Wesentlichen wiedererkennen. Diese Große Kantate besteht jetzt noch [2. Hälfte des 19. Jahrhunderts], die Kammerkantate aber hat sich in die Große Kantate und Oper aufgelöst und ist (seit etwa 1750) aus der Kompositionspraxis gänzlich verschwunden. Übrigens sind wir in neuerer Zeit bei länger andauernden Vokalwerken so sehr an die Schwerpunkte des Chores gewöhnt, dass es die Frage ist, ob wir an der Kammerkantate, von aller Schönheit, die sie im Einzelnen entfalten kann, abgesehen, im Ganzen noch Wohlgefallen finden würden. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 135ff]