Jazz (1929)

Jazz (so viel wie "hetzt", in dialektischer Umbildung aus dem englischen "chase" entstanden) bezeichnet die in der amerikanischen Tanzmusik seit 1914 ausgebildete Klang- und Satztechnik. (Dass das Wort Jazz als Spitzname und anfeuernder Zuruf für einen exzentrischen Negermusikanten [sic] zu seiner Bedeutung gelangt sei, ist Legende. Statt Jazz-Musik ist in Amerika jetzt allgemein die Bezeichnung "syncopated music" üblich).

Der Jazz beruht nicht unmittelbar auf afrikanischer Folklore, ist vielmehr eine erst in mehrfacher Umschmelzung entstandene gegenseitige Durchdringung von Elementen der europäischen mit solchen der afrikanischen Musik. Die Volksmusik der nordamerikanischen Neger [sic] hat die Anregung zur Entstehung des Jazz gegeben. Sie ist ihrerseits bereits das Ergebnis einer Anpassung des urtümlichen Musikgefühls der als Sklaven nach Amerika gekommenen Neger [sic] an die von den weißen Kolonisten und Missionaren ihnen einst zugetragenen Vorbilder von europäischer Musik. So weisen die "Plantations-songs" (siehe dort) und die "Negrospirituals" (siehe dort) die der afrikanischen Musik fremde Dreiklangsharmonik auf und sind in ihrer Melodik beeinflusst vom volkstümlichen englischen Lied, auch von den Gassenhauern der englischen Operette des 19. Jahrhunderts. Die Durchdringung der beiderseitigen Eigenheiten gelang dabei besonders erfolgreich, wo verwandte musikalische Elemente dem entgegenkamen, wie in der Pentatonik (s. d.) und in der synkopierten Rhythmik. Insbesondere die Synkope hebt schon Burney (1748) als charakteristisch an der schottischen Musik hervor, und er bezeichnet den Rhythmus

Jazz (Einstein 1929)

scotch catch

geradezu als "scotch catch" (vgl. auch Hornpipe). Sie steht aber überhaupt im Zusammenhang mit dem englischen Sprachrhythmus und ist nicht nur der volkstümlichen, sondern auch der Kunstmusik auf englische Texte eigentümlich (z. B. in den Oratorien von Händel). Dass die "Pioneers", amerikanische Siedler, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus den Südstaaten nach dem mittleren Westen kamen, nachweislich in ihrer Musik die typischen Merkmale der alten Volksweisen aus ihrer englischen Heimat bewahrt haben (vgl. die Ausgaben von P. A. Grainger), ist für die Entstehungsgeschichte der nordamerikanischen Negerlieder [sic] von Bedeutung. Die charakteristische Umfärbung durch die Neger [sic] erfolgte durch Angleichung der übernommenen Eigenheiten an die Heterophonie (s. d.) ihrer ursprünglichen Musik. Von der Technik der rhythmischen und melodischen Variierung in der Musik der afrikanischen Urvölker stammt die Vorliebe für ein gleichzeitiges Nebeneinander verschiedenartiger Rhythmen und die Neigung zum Ausfüllen von Intervallschritten durch Hinüberziehen von Ton zu Ton, schließlich auch zu Abweichungen von der reinen Intonation um kleinste Intervalle, wie das der afrikanischen Negermusik [sic] von der Berührung mit dem Vierteltonsystem der Araber her eigentümlich ist.

Ähnlich verhält es sich mit der Instrumentalmusik. Die Beziehung zwischen den Geräusch- und Schlaginstrumenten als Hauptträgern der rhythmischen Energien und der afrikanischen Musik ist offensichtlich. Von den Blasinstrumenten sind Posaune, Trompete und Klarinette durch die Missionsmusiken, Saxophon und Sousaphon durch die Militärmusik den Negern nahegebracht worden. Sie machten diese Instrumente ihrem Ausdrucksbedürfnis dienstbar, indem sie zu dem übernommenen Vollklang der Bläserchoräle die Register der grellen höchsten und dumpfen tiefsten Töne ausnutzten und die naturhafte Phantastik der näselnden, knarrenden und quäkenden Stopftöne mit spielerischer Freude am Grotesken virtuos entwickelten.

Die Musik der amerikanischen Neger [sic] war unbeachtet geblieben, bis durch das Beispiel Dvořáks die folkloristische Strömung in Amerika Boden gefasst hatte und weiterhin auch in Europa im Zusammenhang mit dem Impressionismus (s. d.) das Interesse für Exotik erwacht war. So war die Möglichkeit einer Rückwirkung und der erneuten Umschmelzung der in der Musik der amerikanischen Neger [sic] erstmalig verbundenen Elemente gegeben. Den letzten Anstoß gab seit 1909 die Anlehnung des Gesellschaftstanzes an Negertänze [sic]  von denen der "Cake-walk" schon vor dem Kriege auch in Europa Eingang gefunden hat. Den Tänzen folgte das erste Tanzorchester mit Negern [sic] 1918 in Paris. Die Anfänge der jazzmäßigen Umwandlung der Tanzmusik in Amerika selbst liegen um 1915, wo Negerensembles [sic] mit Posaune, Klarinette, Kornett und großer Trommel in New Orleans und Chicago zur Geltung kamen. Ihr Erfolg veranlasste die weißen Tanzkapellen in Kalifornien zur Nachahmung und führte zunächst zu der aus den ersten Jahren nach dem Kriege auch in Deutschland bekannten Entartung der Tanzmusik in wüsten Lärm, bis seit 1916, vor allem durch Paul Whiteman, der heutige [um 1930] Jazz in Anpassung der folkloristischen Elemente an die Technik der Kunstmusik zur Durchbildung gelangt ist. Während die Negerorchester [sic] der "colored shows" (Variétés der Farbigen) weiter beim Spiel an der jedesmaligen freien Improvisation ihrer Variationen festhalten und in ihrer besten Form, bei meist kleinerer Besetzung, eine Art von kammermusikalisch intimeren Wirkungen anstreben (z. B. Sam Wooding, der 1925 mit seinem Orchester die "Chokolate kiddies" bei ihrem Gastspiel in Europa begleitet hat), sucht Whiteman unter Ausschaltung der Zufälligkeiten von Improvisationen dem Jazz durch Anlehnung an den Stil der symphonischen Musik künstlerische Bedeutung zu geben. Er hat für die Ausnutzung der neuen klanglichen Möglichkeiten in Ferdie Grofé einen eigenen Arrangeur. Wenn auch in den Kinos der amerikanischen Großstädte Jazz-Orchester mit 100 und mehr Musikern keine Seltenheit sind, so bleibt doch die Besetzung des Orchesters von Whiteman gewissermaßen das "klassische" Beispiel für den Jazz. Es besteht aus 36 Instrumenten, die von 22 Musikern gespielt werden: zwei bis drei Violinen (für besondere Effekte bis auf acht verstärkt), zwei Bässe (bedienen auch die Tuben), zwei Trompeten (abwechselnd mit Flügelhorn), zwei Posaunen (eine abwechselnd mit Euphonium), zwei bis drei Hörner, drei Saxophone (zu je drei Tonarten, von Sopran bis Bass, auch abwechselnd mit Klarinette, Sarusophon, Sousaphon), zwei Klaviere (eins abwechselnd mit Celesta), Banjo, Pauken, Becken und anderes Schlagzeug.

Das Wesen des Jazz besteht klanglich in der Verbindung von nicht verschmelzenden, gern grellen Klangfarbengruppen mit Überwiegen der Bläser und rhythmisch behandelter Grundierung durch Klavier, Banjo und Schlaginstrumente, satztechnisch in der rhythmischen, vor allem synkopierenden, und melodischen Variierung bis zur völligen Auflösung der thematischen Linie in ein Gewebe von teils durchgeführter, teils vagierender "Polyphonie". Die durch den Jazz gegebenen Anregungen verwandten in ihrer Musik u. a. Strawinsky (Geschichte vom Soldaten, Ragtime für 11 Soloinstrumente), Hindemith (op. 24, I und 26), Wiéner (Sonatine Syncopée), Kurt Kern (Jazz-Sinfonie); in ihren Opern Weill und Křenek (vgl. auch Grosz, Grünberg, Jemnitz, Kern, Milhaud, Satie, Schulhoff). Schulen für den Jazz erschienen in Amerika (u. a. von Zez Confrey), in Deutschland bereitet [1929] Bernhard Etté eine solche vor, als besonderes Lehrfach wurde Jazz 1928 sogar am Konservatorium in Frankfurt eingeführt (vgl. Melos, VII, 6; 1928). In den Vereinigten Staaten gibt es bereits eine ganze Reihe von technischen Werken über die Jazz-Lehrmethoden und das Jazz-Spielen. Vgl. Anbruch, VII/1925, April-(Jazz-)Heft; Auftakt VI, 10 (1926); Paul Whiteman und Mary Margaret Mc Bride in: Saturday Evening Post, Febr./März 1926; A. Coeuroy und A. Schaeffner, Le Jazz (Paris 1926); Paul Bernhard, Jazz - Eine musikalische Zeitfrage (München 1927); R. W. Mende, The Appeal of ]azz (London 1927); auch A. Baresel, Das Jazz-Buch, Anleitung zum Spielen, Improvisieren und Komponieren moderner Tanzstücke (1926) und Bernh. Egg, Jazz-Fremdwörterbuch (Leipzig 1927). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 829f]