Gregorianischer Gesang (1865)
Gregorianischer Gesang, Cantus Gregorianus, choralis, firmus, planus, romanus, vetus. Der alte Choralgesang, welcher im 6. Jahrhundert von Papst Gregor dem Großen (reg. von 591-604) für die römische Kirche eingerichtet und festgestellt wurde und, wenigstens in seiner Gesamtfassung, bis auf den heutigen Tag erhalten hat, wenngleich die einzelnen Melodien im Laufe der Zeit Abänderungen erfahren haben und in verschiedene Singweisen auseinandergegangen sind, so dass eine Herstellung der ursprünglichen Lesart gegenwärtig [um 1865] wohl zu den Unmöglichkeiten gehört. Indem der bereits vom Bischof Ambrosius um 386 zu Mailand eingeführte Kirchengesang (Ambrosianischer Gesang, siehe dort) durch die, in Folge des Mangels einer unzweideutigen Notation, im Wesentlichen mündliche Überlieferung verweltlicht, überhaupt ausgeartet und in Verfall geraten war und auch an sich den fortgeschrittenen kirchlichen Bedürfnissen nicht mehr entsprechen haben mochte, sah Gregor zu einer Reinigung und Wiederherstellung des Kirchengesanges sich veranlasst. Er sammelte, sichtete, ordnete und verbesserte, was von kirchlichen Gesängen früherer Zeit seinen Zwecken entsprechendes übrig geblieben war, tat neue hinzu, richtete die Modulation derselben nach den angeblich von ihm durch Hinzufügung der plagalischen Nebentöne bis auf acht vermehrten Kirchentönen ein und verzeichnete sämtliche Gesänge mittels einer von ihm wahrscheinlich verbesserten Notation (die Neumenschrift) in einem Antiphonar. Dieses später verloren gegangene Antiphonar, nach ihm das Gregorianische Antiphonar genannt, wurde zu Rom auf dem Altare St. Peters niedergelegt, mit der Bestimmung, für alle Zeiten als feste unabänderliche Norm, als ein Kanon des Kirchengesanges der gesamten römischen Kirche zu gelten. Dieser Bestimmung gemäß heißen die Melodien des Gregorianischen Gesanges auch Cantus firmus (canto fermo), fester Gesang; ferner Cantus choralis, weil sie bei Kirchenämtern und im Chore versammelter Geistlichkeit entweder vom Gesamtchor, oder von mehreren Chören unter sich oder mit einzelnen Stimmen abwechselnd gesungen wurden; nach ihrer metrischen Beschaffenheit und einstimmigen Ausführung Cantus planus, weil alle Noten gleichen Zeitwert hatten, außerdem der Vortrag, wenn auch durch den Chor, so doch stets nur einstimmig war; Cantus romanus, weil sie von Rom herstammten, woselbst sie zuerst eingeführt wurden und von wo aus sie nach und nach über das ganze Abendland sich verbreiteten, worüber allerdings mehrere Jahrhunderte hingingen; Cantus vetus, zum Unterschied vom neueren Mensuralgesang.
Wie schon bemerkt, schreiten die Melodien des Gregorianischen Gesanges, ähnlich unserem heutigen Choral, in lauter Noten von gleicher Dauer fort, ohne Unterschied von Länge und Kürze. Alles was ihnen von Rhythmus eignet, besteht allein in einer gewissen Gliederung und Anordnung der melodischen Teile. Dass diese Eigenschaft dem Choralgesang einen hohen Grad feierlichen Ernstes verleiht, unterliegt keinem Zweifel, und dies mag Gregor veranlasst haben, den aus dem trochäischen Sprachmetrum entsprungenen Wechsel von Länge und Kürze des Ambrosianischen Gesanges zu beseitigen, um so mehr, da letzterer gerade durch diese metrische Beschaffenheit dem weltlichen Gesang wahrscheinlich näher gekommen war, als die Kirche dulden mochte. Wie man denn den inneren Wesensunterschied zwischen dem Ambrosianischen und Gregorianischen Gesange darin erblicken mag, dass jener mehr geistlicher Volksgesang, dieser mehr Priester- und Kunstgesang gewesen ist. Bestimmter über den eigentlichen Kunstcharakter beider Gesangarten zu urteilen ist gegenwärtig unmöglich, da vom Ambrosianischen Gesang alle Monumente fehlen, die Gregorianischen Melodien aber nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gestalt vorliegen. St. Gallen bewahrte letztere zwar in ihrer Echtheit, ein daselbst befindliches Antiphonar wird für die durch Roman 790 dorthin gebrachte authentische Abschrift(1) von Gregors Antiphonar angesehen; doch ist die Neumenschrift, womit es notiert ist, bis jetzt [1865] noch nicht entziffert, wenngleich man in neuester Zeit mit Erklärung derselben mehrfach sich beschäftigt hat (siehe Neumen).
Über die acht Kirchentöne, nach welchen Gregor die Modulation des Choralgesanges ordnete, ist im Artikel Tonart einiges gesagt. Die musikalische Vortragsweise der verschiedenen Gattungen kirchlicher Texte, welche teils Dichtung, teils Prosa sind, zerfällt, je nachdem sie entweder wirkliche Melodie oder mehr feierliche Rezitation als eigentlicher Gesang ist, in zwei Hauptklassen, welche man in theoretischen Werken als Concentus und Accentus unterscheiden findet. Zum Concentus gehören die entweder vom Gesamtchor durchaus oder mit einzelnen Stimmen wechselnd oder von Wechselchören (Antiphonen) abgesungenen wirklichen Melodien. Während hingegen der Accentus den nach den Satzeinschnitten und Interpunktionen eingerichteten kirchlichen Lesevortrag, den die älteren Lehrer nicht zum eigentlichen Gesang rechnen, sondern den modus legendi choraliter nennen, in sich begreift. Über Concent und Accent, ferner über die einzelnen Gattungen der dazu gehörenden Gesange, als Antiphonie, Psalmodie, Responsorien, Collectenton [sic] etc. siehe die eigenen Artikel. Die Bücher, worin die verschiedenen Stücke sowohl des Concent als Accent notiert zu finden, werden eingeteilt in Antiphonarium, Graduale, Psalterium, Breviarium und Missale. Auch das Plenarium, Messbuch und Graduale in einem Bande enthaltend, gehört dazu.
1 Oder für eine aus dem 9. Jahrhundert stammende Kopie von dieser Abschrift, deren im 9. und 10. Jahrhundert viele zu St. Gallen angefertigt wurden. S. Lambillotte, Antiphon. de St. Gregoire, 1851. Schubiger, Sängerschule St. Gallens.
[Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 388f]