Choralnote (1929)

Choralnote ist im Gegensatz zur Mensuralnote die für den gregorianischen Choral (Plainchant) übliche Notierungsweise, welche nicht den Rhythmus, sondern nur die Tonhöhenveränderungen und die Verteilung der Melismen auf die Textsilben anzeigt, ursprünglich (nachweisbar seit dem 9. Jahrhundert) in der Gestalt der weder die Tonlage noch die Intervalle genau bestimmenden Neumen (siehe dort); seit Guido von Arezzo (1026) durch Eintragung in ein Liniensystem zwar darüber keinen Zweifel lassend, aber ebenfalls ohne rhythmische Wertzeichen.

Die Choralnote tritt in zweierlei, nur graphisch verschiedenen Formen auf, nämlich als gotische und römische Choralnote. Die gotische (deutsche) Choralnote hat die Formen der Neumen getreuer konserviert, nur vergröbert und wie die gotische Schrift eckig gestaltet; ihre Hauptzeichen sind:

Choralnote (Einstein 1929)

Nägel- und Hufeisenschrift

(Nägel- und Hufeisenschrift). In der römischen oder italienischen Choralnote haben alle Noten quadratische Gestalt, weshalb man sie auch Nota quadrata oder quadriquarta genannt hat. Nur die der Virga mit vorausgehenden oder folgenden Punkten entsprechenden Figuren

Choralnote (Einstein 1929)

Virga-Figuren

zeigen die rhombische Notenform statt der quadratischen, und auch die Vereinigung zweier Noten in einen schrägen Körper (Figura obliqua)

Choralnote (Einstein 1929)

Figura obliqua

entsprechend der Form mehrtöniger Neumen weicht hierin ab.

Mit den Mensuralwerten der Longa, Brevis und Semibrevis haben aber auch die Zeichen der römischen Choralnote trotz der Gleichheit der Gestalt nichts zu tun. Die im 13. Jahrhundert aufkommende Mensuralnotation nahm vielmehr die bereits in der Choralnote herausgebildeten quadratischen Notenzeichen zum Ausgang und verlieh ihnen erst bestimmte rhythmische Bedeutung. Die Choralnote selbst aber erhielt sich nicht nur für die altüberlieferten, sondern auch für neue Melodienotierungen (auch die weltlichen der Troubadours, Trouvères und Minnesänger) noch lange in allgemeinem Gebrauch, in den liturgischen Büchern der katholischen Kirche sogar bis auf den heutigen Tag [um 1930]. Bezüglich des nicht durch die Form der Notenzeichen, sondern durch die korrekte Deklamation des untergelegten Textes bestimmten Rhythmus mit Choralnote notierter Gesänge vgl. Choralrhythmus.

Die Notenschrift, in welcher die orthodoxe russische Kirche heute [um 1930] ihre liturgischen Gesänge notiert, hat äußerlich anscheinend Ähnlichkeit mit der Choralnote, unterscheidet aber durch die Notenform rhythmische Werte, d. h. ist nur eine etwas altertümliche Form unserer europäischen Notenschrift, wie folgendes kleine Beispiel zeigt:

Choralnote (Einstein 1929)

Notenschrift der orthodoxen russischen Kirche

[Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 314]