Choralrhythmus (1929)

Choralrhythmus, der Rhythmus mit Choralnote (siehe dort) notierter Gesänge, sowohl kirchlicher als weltlicher.

Nicht nur der Gesamtbestand der offiziellen liturgischen Gesänge der katholischen Kirche sowie der zahllosen, nur vorübergehend zugelassenen Hymnen, Sequenzen, Reimoffizien usw. und der Kirchenlieder in den Vulgärsprachen, sondern auch die gesamte Literatur der Lieder der Troubadours, Trouvères und Minnesänger samt dem Meistergesang ist mit Choralnote notiert. Die Frage nach der rhythmischen Beschaffenheit aller dieser mittelalterlichen Monodien bis ins 16. Jahrhundert ist daher eine sehr wichtige. Von ihrer Beantwortung hängt erst die Möglichkeit einer ästhetischen Wertung dieser monodischen Kunst ab.

Soweit die Choralnotierungen eckige, der Mensuralnote (siehe dort) gleichende Formen haben, hat man sie wenigstens für die weltlichen Lieder lange nach den Regeln der Mensuraltheorie des 12.-13. Jahrhunderts (Franko) deuten zu müssen geglaubt. Dabei ergaben sich aber monströse, das rhythmische Gefühl des Musikers abstoßende Bildungen. Auch die Deutung in dem Sinne, den man seit dem 16. Jahrhundert den gregorianischen Choralnotierungen beizulegen gewöhnt ist, nämlich mit Annahme gleichen Geltungswertes aller Einzeltöne, welche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkam, ergab keine befriedigenden Resultate. Mehr und mehr brach sich daher, zuerst unter den sprachlichen Metrikern, die Einsicht Bahn, dass der Vers mit vier Hebungen nicht nur die natürliche Grundlage aller komplizierten Versformen ist, sondern zugleich eine musikalische Grundlage bildet, welche für den Gesangsvortrag der Gedichte den Rhythmus bestimmen muss. Allmählich erkannte man auch, dass scheinbare Prosatexte von Gesängen auf vierhebiger Grundlage beruhen, und damit war ein ganz neuer Gesichtspunkt für die Lesung der Monodienotierungen gegeben. Die Hauptakzente eines natürlichen Sprechvortrags stellten sich nun als eine Art Taktweiser heraus, wenn man für diese die Bedeutung des rhythmischen Pulsschlages in Anspruch nahm, gleiche Zeitabstände für sie einhielt. So ergab sich unter Zuhilfenahme der die Töne gruppenweise zusammenfassenden melismatischen Zeichen der Neumen bzw. der Choralnoten tatsächlich ein bis ins kleinste feststellbarer Rhythmus. (Zu alledem ist freilich zu bemerken, dass es im Grunde ganz verschiedene Fragenkomplexe sind, die einerseits die rhythmische Deutung des eigentlichen gregorianischen Chorals, andererseits die der Hymnen und der weltlichen Liedkunst angehen. Das Prinzip der Vierhebigkeit in die Deutung des Chorals hineinzutragen, ist jedenfalls bedenklich.)

Vereinzelt stehen neben diesen drei radikal verschiedenen Deutungsweisen noch zwei andere, von den Formen der Neumen ausgehende, deren eine (G. Houdard) für mehrtönige Neumen den Gesamtwert einer Einzelzeit annimmt, übrigens aber am Gleichwert der Einzeltöne festhält; die andere (Dechevrens) sucht in kleinen graphischen Verschiedenheiten für gleichbedeutend geltender Neumen Anhaltspunkte für die Deutung im Sinne verschiedenen Dauerwerts. Endlich ist speziell für den Rhythmus der Troubadour- und Trouvères-Gesänge durch J. B. Beck (s. d.) noch eine neue Theorie aufgestellt worden, nämlich die der modalen Interpretation, d. h. im Sinne eines der Modi der Zeit der Anfänge der Mensuraltheorie (12. Jahrhundert).

Die wichtigsten sich mit dieser Frage beschäftigenden Arbeiten sind: Dom Joseph Pothier, Les mélodies grégoriennes (1880, deutsch von Ambr. Kienle 1881); Dom André Mocquereau, De l'influence de l'accent tonique et du cursus sur la structure mélodique et rythmique de la phrase grégorienne (in der Paléographie musicale 1889ff; vgl. dazu Dom J. Jeannin, O. S. B., Le rythme grégorien d'après le 7e volume de la Paléographie musicale, Rivista musicale XX, S. 555-82) und Le nombre musical grégorien ou Rythmique grégorienne, théorie et pratique (1. Bd. 1908), ferner Études sur le rythme grégorien (Lyon 1926); Georges Houdard, Le rythme du chant dit grégorien d' après la notation neumatique (1898); Ant. Dechevrens, S. J., Le rythme dans l'hymnographie latine (1895), Études de science musicale (1898-99, 3 Bde.) und Les vraies mélodies grégoriennes (1902); L. Bonvin, Al. Fleury… (1907); Peter Wagner, Neumenkunde, 2. Aufl. 1912; Dom. Johner, Der gregor. Choral (1924); Pierre Aubry, Le rythme tonique dans la poésie liturgique el dans le chant de l'église chrétienne (1903), La rythmique musicale des troubadours et trouvères (1907) und Trouvères et troubadours ( 1909); J. B. Beck, Die Melodien der Troubadours (Faksimilierungen und Übertragungen sämtlicher Melodien, 1. Bd., 1908) und La musique des troubadours (Paris 1910); Wilh. Meyer, Gesammelte Abhandlungen zur mittelalterlichen Rhythmik (1905, 2 Bde.); H. Grimme, Der Strophenbau in den Gedichten Ephräms des Syrers (1893); Ed. Sievers, Altgermanische Metrik (1892) und Studien zur hebräischen Poesie (1901); A. Heusler, Deutsche Versgeschichte (in H. Pauls Grundriß der germ. Philologie); Pitra, Hymnographie de l'église grecque (1867); Ed. Bernoulli, Die Choralnotenschrift bei Hymnen und Sequenzen (1898); T. Gallino, Musique et versification au moyen-âge (1891, Dissertation); P. Runge, Die Sangesweisen der Kolmarer Handschrift (1896) und Die Gesänge der Geißler des Pestjahres 1349 (1899); H. Riemann, Die Melodik der Minnesänger (Musikal. Wochenbl. 1897ff) und Das Problem des Choralrhythmus (Peters-Jahrbuch 1905); Franz Saran, Rhythmik (1902 in der Ausgabe der Jenaer Minnesängerhandschrift, mit G. Holz und Ed. Bernoulli) und Der Rhythmus des französischen Verses (1904) und K. von Ettmayer, Singtechnik und Sprechtechnik in französischen und provenzalischen Versen (Zeitschr. f. franz. Sprache und Literatur 1913).

Eine weitere Klärung der Frage ist [um 1930] aus den Untersuchungen der Gesänge der byzantinischen Kirche zu erwarten, deren Notierungen besondere Zeichen für die schweren Zeitwerte haben, die streng an die akzentuierten Silben gebunden sind. Vgl. Byzantinische Musik. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 314f]