Ausdruck (1882)
Ausdruck (italienisch: Espressione, französisch: Expression) nennt man die feinere Nuancierung im Vortrag musikalischer Kunstwerke, welche die Notenschrift nicht im einzelnen auszudrücken vermag, d. h. alle die kleinen Verlangsamungen und Beschleunigungen sowie die dynamischen Schattierungen, Akzentuationen und verschiedenartigen Tonfärbungen durch die Art des Anschlags (Klavier), Strichs (Violine etc.), Ansatzes (Blasinstrumente, Singstimme) etc., welche in ihrer Gesamtheit als ausdrucksvolles Spiel bezeichnet werden. Wollte man alle die kleinen Akzente durch ^ < sf etc. bezeichnen, welche dem kunstgerechten Vortrag eines Werks unerlässlich sind, so würde die Notenschrift sehr überladen werden. Zugleich würde aber auch dem ausführenden Künstler alle subjektive Freiheit der Empfindung geraubt. Beim Zusammenspiel vieler, wie im Orchester, ist es freilich nicht möglich, der Subjektivität viel Spielraum zu lassen. das Espressivo muss sich daher auf solistische Stellen einzelner Instrumente beschränken, während das Tutti sich an die vorgeschriebenen Zeichen resp. die Modifikationen des Dirigenten zu halten hat. Im Tutti ist der eigentliche vortragende Künstler der Kapellmeister.
Es ist nicht leicht, für den Ausdruck bestimmte Regeln zu geben, aber es ist immerhin möglich, denn sonst würden nicht alle guten Künstler in der Hauptsache die selben Abweichungen von der schlichten, durch die Notenschrift angezeigten Vortragsweise zur Anwendung bringen. Versuche, zu allgemeinen Gesichtspunkten zu gelangen, sind bereits vereinzelt gemacht worden. Das beste bis jetzt [1882] Geleistete ist wohl der "Traité de l'expression musicale" Mathis Lussy (3. Auflage 1877); vergleiche auch A. Kullaks "Ästhetik des Klavierspiels" (2. Auflage 1876). Was zunächst die kleinen Tempoveränderungen anlangt, so ist zu bemerken, dass eine Beschleunigung eine Steigerung, eine Verlangsamung das Gegenteil bedeutet, dass daher in der Regel ein geringes Treiben, Drängen am Platz sein wird, wo die musikalische Entwicklung noch eine aufsteigende, positive ist, ein Nachlassen dagegen, wo dieselbe umkehrt, sich zum Schluss wendet. Diese Veränderungen müssen natürlich in den einzelnen musikalischen Phrasen sehr kleine sein, dürfen aber für ein länger ausgesponnenes Thema schon bedeutender werden und erreichen für ganze Sätze eine Ausdehnung, welche die Notenschrift nur selten ignoriert. Das Anwachsen der Tonstärke ist gleichfalls eine Steigerung, das Abnehmen ein Nachlassen. Die naturgemäße dynamische Schattierung einer musikalischen Phrase ist daher das Crescendo bei steigender Melodie und das Diminuendo bei fallender. Es versteht sich, dass auch hiermit haushälterisch umgegangen werden muss und die für eine kurze Phrase aufgewandten Unterschiede der Tonstärke geringer sein müssen als die für ein ganzes Thema oder die Steigerung in einen Durchführungsteil. Die Abweichungen von diesen allgemeinsten Regeln wird der Komponist meist anzeigen, zum Beispiel ein Diminuendo bei steigender Melodie oder beim Stringendo, desgleichen ein Ritardando bei steigender Melodie und Crescendo. Sicher begeht er ein Untelassungssünde, wenn er das Irreguläre nicht als solches kennzeichnet. Ferner gilt die Regel, dass das Besondere, d. h. im einfachen melodischen, rhythmischen, harmonischen Verlauf Auffallende, hervorgehoben, akzentuiert wird, zunächst in harmonischer Beziehung das Auftreten von Akkorden, die der Tonika sehr fremd sind, oder die Einführung einzelner scharf dissonierender Töne. Die Modulation in eine andere Tonart wird regelmäßig im Crescendo geschehen; die Akkorde oder Töne, welche sie einleiten, werden stärkere Akzente erhalten, als ihnen nach ihrer metrischen und rhythmischen Stellung zukommen. Eine scharfe Dissonanz durch akzentloses Spiel mildern wollen, hieße sie vertuschen, die Aufmerksamkeit von ihr ablenken. Der Effekt wäre ein nicht genügendes Auffassen derselben, ein Nichtverstehen, Unklarheit, d. h. ein großer Fehler. Doch kann natürlich der Komponist mit künstlerischem Vollbewusstsein die gegenteilige Vortragsweise verlangen, er kann im Diminuendo die abenteuerlichsten Modulationen machen, kann die krassesten Dissonanzen im Pianissimo bringen etc. Der erzielte Eindruck wird dann der des Fremdartigen, Sonderbaren, Märchenhaften, Unheimlichen etc. sein, eben zufolge der absichtlich vermiedenen vollen Klarheit. Also muss auch hier das Abnorme, die Abweichung vom schlichten Vortrag, besonders verlangt werden. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 53f]