Artikulation (1929)
Artikulation, in der Sprache die Unterscheidung der einzelnen Laute, in der Musik die innigere oder losere Aneinanderfügung der Einzeltöne, das Binden (Legato) oder Stoßen (Staccato) und ihre Abarten, irreführenderweise von manchen auch "Phrasierung" genannt. Denn ebenso wenig wie in der Sprache den Vokal scharf abgrenzende und eine Klanglücke verursachende Konsonantenfolgen Wortgrenzen bedingen, entscheidet im musikalischen Vortrag das Binden und Stoßen über die Zusammengehörigkeit von Tönen zur engeren Einheit von Motiven. Sonst würde ja eine durchaus staccato durchgeführte Melodie überhaupt nur aus Einzeltönen bestehen und für sie von Motiven, Phrasen nicht gesprochen werden können. Jede Staccato-Variation eines Themas beweist aber das Gegenteil. Für kleinste, nur aus zwei Tönen bestehende Motive ist aber sogar das kurze Abstoßen des ersten (Auftakt-)Tones und das volle Aushalten der Schwerpunktsnote etwas ganz Gewöhnliches, zum Beispiel:
In solchen Fällen erweckt die nur die Artikulation anzeigende gewöhnliche Bogenbezeichnung den Schein einer vollständig gegenteiligen Motivbildung:
Das Beispiel zeigt, wie notwendig eine strenge Scheidung der Begriffe Artikulation und Phrasierung ist. Denn das Nichtverstehen der Motive zerstört nicht nur die Art des Aufbaues der Melodie, sondern bestimmt auch ganz andere Modalitäten der praktischen Ausführung. An die Stelle des Schwungs von der abgestoßenen Auftaktnote hinüber in die ausgehaltene Schlussnote ([Notenbeispiel] a) tritt das scharfe Absinken von der langen Note in die kurze. Über die Grundfragen der Artikulation vgl. Herm. Keller, Die musikal. Artikulation, insbesondere bei J. S. Bach (Stuttgart 1926).
Da die seit dem 17. Jahrhundert aufgekommenen Bögen einseitig durch die Technik der Bogenführung der Streichinstrumente bestimmt sind, so lassen sie nur in wenigen Fällen die Sinngliederung (Phrasierung) erkennen. Das ist der Grund, warum die Phrasierungsausgaben für Klavier zu starken Abänderungen der Bezeichnung greifen müssen, um falsche Auffassungen der Thematik zu verhüten. Die Streichinstrumente artikulieren in erster Linie durch Wechsel des Bogenstrichs, beim Staccato durch Wechsel von Note zu Note, ohne dass der Bogen die Saite verlässt. Über die schwierigeren Arten der Ausführung des Staccato vgl. den Artikel Staccato.
Die Blasinstrumente artikulieren durch Unterbrechung des Atemstromes, bei schneller Tonfolge mit Zuhilfenahme von Zungenstößen. Eine ausführlichere Behandlung erfordert die Artikulation des Klavierspiels durch sehr stark verschiedene Arten der Anschlagsbewegungen, welche sich keineswegs auf die Finger beschränken, sondern die freie Beweglichkeit der Arme erfordern. Am beschränktesten sind die Bewegungen beim Legato, am ausgiebigsten beim Bravour-Staccato. Das Legato verbindet die Töne genau miteinander, so dass, während die zweite Taste niedergedrückt wird, die erste sich hebt; das Staccato trennt sie scharf, d. h. die erste Taste wird losgelassen, ehe die zweite berührt wird. Unterarten sind: das Legatissimo, bei welchem die Töne noch nach dem Anschlag folgender ausgehalten werden, sofern sie sich harmonisch mit diesen vertragen; das Non legato, für langsame Tonfolgen als Portato, bei dem die Töne möglichst lange gehalten werden und doch gerade noch von den folgenden erkennbar abgetrennt (Notierungsart:
d. h. Verbindung der Staccatopunkte und des Legatobogens oder auch:
Verbindung von Tenutostrichen und Staccatopunkten), für schnelle Tonfolgen als Leggiero (leichtperlend, mit elastisch zurückspringenden Fingern, besonders im Piano) und Mezzolegato (mezzo staccato = mit energisch vorschnellenden, sozusagen jeden Einzelton neu artikulierenden Fingern - brillante, con bravura). Das eigentliche Staccato im Klavierspiel erfordert durchaus die Bewegung des Oberarms und schnellt leicht die Hand bei völlig freiem Handgelenk. Für schnelle Griff-Folgen (Oktaven, Akkorde) kommt dazu noch die Ausnutzung des Rikoschettierens der Hand im Handgelenk.
Eine besondere Anschlagsart erfordern die aus zwei und zwei mit Legatobogen versehenen Tönen bestehenden Gänge:
In solchen Fällen müssen bei jedem zweiten Tone Hand und Arm leicht angehoben werden, so dass der zweite (leichtere Ton) während der Aufwärtsbewegung angeschlagen wird (Abzug). Vgl. auch Attacca-Ansatz. Anschlagende, d. h. einen Notenwert beginnende Verzierungen (Pralltriller, Mordent, Anschlag und anschlagender Doppelschlag) werden viel leichter und runder herausgebracht, wenn ihnen ein leichtes Anheben des Arms vorausgeht. Vgl. die klavierpädagogischen Werke von H. Riemann sowie ferner Franz Marschner, Entwurf einer Neugestaltung des Anschlags (1888), Marie Jaell, Le toucher (1899, deutsch als Der Anschlag 1901), Tob. Matthay, The Art of Touch (1903), Tony Bandmann, Die Gewichtstechnik des Klavierspiels (1907), EI. Caland, Die Ausnutzung der Kraftquellen beim Klavierspiel (1905), R. M. Breithaupt, Die natürliche Klaviertechnik (1905), F. A. Steinhausen, Über die physiologischen Fehler und die Umgestaltung der Klaviertechnik (1905), Martha Lamm-Natannsen, Die Entwicklung der pianistischen Anschlagskunst (Berlin 1916).
Die physiologischen Anschlagstheoretiker überschätzen zweifellos die Bedeutung der physischen Kraftleistungen für ein künstlerisches Klavierspiel und lenken über Gebühr das Interesse vom Ästhetischen auf das Mechanische. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 67f]