Wechselnoten (1879)
Wechselnote, italienisch: Note cambiata, französisch: Notes de passage, nannten die älteren Kontrapunktisten eine von der gewöhnlichen Weise abweichende Einführung der Dissonanz. Schon im einstimmigen Kirchengesange hatte man sich daran gewöhnt, einen Quartensprung nach unten dadurch melodischer zu machen, dass man nicht die Terz, sondern die Sekunde einschob, also nicht wie unter a), sondern wie unter b) sang:
Und diese Weise behielt man auch im mehrstimmigen Kontrapunkt bei, so dass der eingeschobene Ton als Wechselnote harmoniefrei und zur Dissonanz wurde, die nicht in der gewöhnlichen Weise aufzulösen ist:
Bald wurde diese Weise zur stehenden beliebten Manier, und wir begegnen ihr schon häufig in den Werken von Josquin de Prés, Pierre de la Rue usw., namentlich häufig aber im 16. Jahrhundert. Besonders wusste auch Palestrina sie effektvoll zu verwenden; nicht minder Orlandus Lassus, wie in folgendem Beispiel:
Oder im 18. Jahrhundert Andreas Gabrieli:
Schon aus der protestantischen Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts verschwand diese Art der Wechselnote allmählich; der neueren Praxis, die hier bald zur Herrschaft gelangte, erwuchsen andere Mittel der melodischen Ausschmückung, und so kam es, dass man im 19. Jahrhundert bereits solche feststehende Formeln prinzipiell vermied. Nur im Rezitativ erhielt sich noch länger als Reminiszenz an diese Art der Wechselnote die bekannte Schlussformel:
Jetzt bezeichnen wird die auf den Hauptzeiten eintretenden Dissonanzen als Wechselnoten:
Die moderne Musik [19. Jh.] hat diese Wechselnote hauptsächlich dazu verwendet, die langen Noten damit ausschmückend aufzulösen. So würde der nachstehende einfache Satz durch Einführung der Wechselnote sich viel reicher ausstatten lassen:
Wechselnote ist uns jetzt die über oder unter dem konsonierenden Hauptton gelegene große oder kleine Sekunde:
Führen wir beide Sekunden, die obere und die untere, ein, erhalten wir selbstverständlich eine noch reicher ausgeschmückte Melodie:
Die Instrumentalmusik hat in diesen Wechselnoten das trefflichste Mittel gewonnen, einen einfachen Satz in wirksamster Weise auszuschmücken und ihn eindringlicher wirkend zu machen. [Mendel/Reissmann Musikalisches Lexikon 1879, 300ff]