Tonalität (1882)

Tonalität, ein [um 1880] moderner Begriff, der sich nicht völlig mit "Tonart" deckt, da die Bedeutung der Tonalität weit über die Grenzen der durch die Tonleiter repräsentierten Tonart hinausreicht. Tonalität ist die eigentümliche Bedeutung, welche die Akkorde erhalten durch ihre Bezogenheit auf einen Hauptklang, die Tonika. Während die ältere Harmonielehre, welche im wesentlichen von der Tonleiter ausgeht, unter "Tonika" den dieselbe beginnenden und schließenden Ton versteht, muss die neuere Harmonielehre, welche nichts andres ist als die Lehre von der Auffassung der Akkorde im Sinn von Klängen, einen Klang (Dur- oder Mollakkord) als Tonika aufstellen. So ist also die C-Dur-Tonalität herrschend, wenn die Harmonien in ihrer Beziehung zum C-Dur-Akkord verstanden werden; z. B. die Folge:

Tonalität, Beispiel

C-Dur-Tonalität

ist im Sinn einer Tonart der älteren Harmonielehre gar nicht zu begreifen, obgleich niemand behaupten kann, dass sie fürs Ohr unverständlich ist. Im Sinn der C-Dur-Tonalität ist sie: Tonika - Gegenterzklang - Tonika - schlichter Terzklang - Tonika, d. h. es sind der Tonika nur nah verwandte Klänge gegenübergestellt (vergleiche Klangfolge). Ein Klang wird als Hauptklang aufgestellt: entweder durch direkte Setzung, wiederholten Anschlag, breite Darlegung (z. B. der F-Moll-Akkord zu Anfang der Sonata appassionata von Beethoven) oder auf indirektem Weg, indem ein Schluss zu ihm gemacht wird; das letztere geschieht, indem einem seiner verwandten Klänge der Untertonseite einer der Obertonseite folgt oder umgekehrt (siehe Tonverwandtschaft). Bei derartigen Folgen, z. B. F-Dur-Akkord - G-Dur-Akkord oder As-Dur-Akkord - G-Dur-Akkord oder G-Dur-Akkord [sic] - F-Moll-Akkord, ist der übersprungene C-Dur- oder C-Moll-Akkord das Verständnis der beiden Akkorde vermittelnd, und tritt deshalb gern danach als schließender Akkord auf. Diese Ausprägung der Tonalität durch eine Art Schlussfolgerung kann ein Tonstück beginnen, wird aber noch viel häufiger im weiteren Verlauf zur Anwendung gebracht, wenn die Tonikabedeutung auf einen anderen Klang übergehen soll (siehe Modulation). Die eigentümliche Tatsache, dass konsonante Akkorde unter Umständen ganz dieselbe Wirkung und Bedeutung für die harmonische Satzbildung haben wie dissonante, dass z. B. in C-Dur der Unterdominante (f-a-c) meist ohne Änderung des Effekts die Sexte (d) beigegeben werden kann und der Oberdominante (g-h-d) ebenso die Septime (f), findet ihre Erklärung nur im Prinzip der Tonalität. Denn im strengsten Sinn konsonant, d. h. schlussfähig, keine Fortsetzung (Auflösung) verlangend, ist eigentlich immer nur ein einziger Klang, die Tonika; die Bedeutung der übrigen ist durch ihre Verwandtschaft mit dieser bedingt. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 923f]