Nachahmung (1929)

Nachahmung (Imitation). Wie in der Architektur ein Säulenkapitäl, eine Rosette und schließlich der ganze Kunstbau eines Domes sich aus der Verarbeitung einer beschränkten Anzahl von Motiven ergibt, so lässt sich auch in der Musik ein prägnantes Thema, ein ganzer Satz in der Regel aus der Wiederholung weniger kleiner Motive erklären. Die Wiederholung ist freilich in der Musik nicht immer nur eine schlichte Reproduktion; vielmehr tritt an Stelle der Gleichheit eine mehr oder minder hervortretende Ähnlichkeit, an Stelle der Wiederholung die Nachahmung. Die Wiederholung eines Motivs auf anderer Tonstufe ist bei weitem die häufigste Form der Nachahmung. Ihr entspringen ebensowohl die kunstvollen Formen des Kanons und der Fuge (siehe dort), als die als dilettantisch und handwerksmäßig verurteilten "Schusterflecke" (siehe dort).
Die wichtigsten Arten der Nachahmung sind:

  1. die Nachahmung in paralleler Bewegung,
  2. die Nachahmung in Gegenbewegung (Umkehrung),
  3. die Nachahmung in der Verlängerung (Augmentation),
  4. die Nachahmung in der Verkürzung (Diminution).

Jede der beiden letztgenannten kann mit jeder der beiden ersten kombiniert werden. Auch ist gelegentlich (schon seit dem 14· Jahrhundert) die umgekehrte Notenfolge (Krebskanon, das Ganze von hinten nach vorn gelesen) eingeführt worden, ein insofern fragwürdiges Kunststück, als der Hörer den Krebskanon zumeist nicht erkennen kann. Die Meister des Kanons im 15. und 16. Jahrhundert ersannen auch sonst noch allerlei kanonische Spielereien (Überspringen der Pausen oder der kleineren (schwarzen) Notenwerte durch die nachahmende Stimme, zeilenweises Rückwärtslesen usw.). Vergleiche Kanon. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1242]