Kanon (1882)

Kanon
1. nach heutigem Sprachgebrauch die strengste Form musikalischer Nachahmung, welche darin besteht, dass zwei oder mehr Stimmen dieselben Stimmschritte machen, aber nicht gleichzeitig, sondern nacheinander. Man unterscheidet den Kanon im Einklang, bei welchem die Stimmen tatsächlich dieselben Töne vortragen, aber so, dass die zweite (imitierende) Stimme einen halben oder ganzen Takt oder mehr nach der anderen einsetzt. Beim Kanon in der Oktave bringt die zweite Stimme die Melodie eine Oktave höher oder tiefer. Der Kanon in der Unterquinte transponiert dieselbe um eine Quinte nach der Tiefe, wobei eine weitere Unterscheidung zu machen ist, ob nämlich die nachfolgende Stimme alle Intervalle genau wiedergibt oder dieselben nach den Verhältnissen der herrschenden Tonart einrichtet. Gleichermaßen gibt es Kanons in der Oberquinte, Quarte, Ober- und Untersekunde etc. Weitere Varianten entstehen durch Verlängerung oder Verkürzung der Notenwerte in der nachahmenden Stimme (Canon per augmentationem oder diminutionem) oder durch Umkehrung aller Intervalle (al inverso, per motum contrarium), so dass, was vorher stieg, dann fällt, oder gar so, dass die zweite Stimme die Melodie von hinten anfängt (Canon cancricans, Krebskanon).

Zur höchsten Blüte wurde die kanonische Kunst durch die niederländischen Kontrapunktisten des 15.-16. Jahrhunderts entwickelt. Vergleiche Ambros, Geschichte der Musik, Band 3; auch O. Klauwell, Die historische Entwicklung des musikalischen Kanons (1877).

Der Name Kanon bedeutet im Griechischen: Vorschrift, Anweisung (Richtschnur); die älteren Kontrapunktisten pflegten nämlich die Kanons nicht in Partitur oder Stimmen auszuschreiben, sondern als eine einzige Stimme zu notieren und die Stimmeinsätze anzuzeigen sowie die näheren Modalitäten der Nachahmung durch rätselhafte Vorschriften zu fordern (Rätselkanon). Diese Inschrift nannte man Kanon, das Stück selbst Fuga oder Consequenza. Die jetzt für die Fuge, eine zwar streng geregelte, aber doch im Vergleich mit dem Kanon sehr freie Form der Nachahmung, übliche Bezeichnung Dux (Führer) und Comes (Gefährte) galten auch für den Kanon; man nannte auch die erste Stimme Guida, Proposta, Antecedens, Precedente und die Folgestimme Conseguente, Risposta. Setzten die Stimmen im Abstand einer halben Taktnote (Minima) nacheinander ein, so hieß der Kanon Fuga ad minimam (vergleiche das Beispiel unter Einsatzzeichen).

2. Bei den Alten war Kanon der Name des Monochords, weil vermittelst desselben die mathematischen Intervallbestimmungen (Oktave = 1/2 der Saitenlänge etc.) bestimmt wurden; deshalb wurden auch die Pythagoräer, deren musikalische Theorie auf dem Kanon fußte, Kanoniker genannt im Gegensatz zu den Harmonikern (Aristoxenos und seine Schule), welche von der Mathematik in der Musik nicht viel hielten. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 436]