Gregor I. (1929)
Gregor I., der Große, Papst von 590 bis 604, hat in der Musikgeschichte einen hochberühmten Namen, weil der noch heute [um 1930] übliche Ritualgesang der katholischen Kirche nach ihm benannt wird (Gregorianischer Gesang). Gregor I. hat aber weder die zahlreichen Antiphonen, Responsorien, Offertorien, Kommunionen, Halleluja, Tractus usw. selbst komponiert, noch auch sie zuerst in die römische Kirche eingeführt. Wenn der liturgische Gesang, wie er heute in der katholischen Kirche überall in der Hauptsache übereinstimmend gehandhabt wird, den Namen Gregors trägt, so ist das so zu verstehen, dass unter seinem Papat die endgültige Ordnung der Gesänge stattfand, was natürlich nicht ausschließt, dass im einzelnen auch nach seiner Zeit mancher Zuwachs und manche Veränderung erfolgte.
Als Päpste, die vor Gregor eine feste Ordnung der Liturgie erstrebten, werden genannt Damasus I. (366-384), Leo I. (440 bis 461), Gelasius I. (492-496), Symmachus (498-514), Johannes II. (523-526), Bonifacius (530-532). Besonders eingreifend scheinen die Neuordnungen unter Gelasius gewesen zu sein, da sich in Deutschland das Gelasianische Sakramentar neben dem Gregorianischen im Gebrauch erhielt bis in die Zeit Karls d. Gr.
Fest steht, dass einzelne Teile der Liturgie lange vor Gregor I. dieselbe Ordnung hatten wie heute, so besonders das Stundenoffizium, wie die 540 zu datierende Regula S. Benedicti belegt, welche großenteils dieselben Gesänge vorschreibt, die bis heute in Gebrauch sind. Sicher kann aber dem gelehrten Bekämpfer der Gregorianischen Tradition, Fr. A. Gevaert (Les origines du chant liturgique de l'église latine 1890, deutsch von H. Riemann 1891) zugegeben werden, dass spätere Päpste, welche der Musik besonderes Interesse entgegenbrachten, auf die fernere Ausgestaltung und Handhabung des liturgischen Gesangs noch Einfluss gehabt haben.
Die wichtigsten sonstigen Schriften zur Gregorianischen Frage sind: D. Germain Morin, Les véritables origines du chant grégorien (1890, deutsch von Elsässer 1892), Cagin, Un mot sur I'Antiphonale missarum (1890); W. Brambach, Gregorianisch (1895, 2. Aufl. 1901); P. Cölestin Vivell, Der gregorianische Gesang; eine Studie über die Echtheit der Tradition (Graz 1904) und ders., Vom Musiktraktat Gregors des Gr. (1911); Gregorio María Sunyol, Introducció a la Paleografia musical Gregoriana (Montserrat 1925).
Es scheint, dass die gregorianische Tradition aufrechterhalten werden muss, wenn auch nicht in dem Sinne, dass Gregor I. selbst wesentlichen persönlichen Anteil an der Bearbeitung oder gar der Komposition der Weisen gehabt hätte. Vgl. Peter Wagner, Einführung in die Gregorianischen Melodien; 1. Ursprung und Entwicklung der liturgischen Gesangsformen bis zum Ausgange des Mittelalters (1901), sowie die Werke von Dom Pothier und Dom Mocquereau. Siehe auch Ambrosius, Ambrosianischer Gesang.
Ganz irrig ist die Bezeichnung der Tonbuchstaben A B C D E F G als gregorianische (vgl. Buchstabentonschrift); eher ist anzunehmen, dass die Neumenschrift (sieh dort) in die Zeit Gregors zurückreicht, wenn auch Belege dafür fehlen. Vgl. Choralrhythmus; Gregorianischer Gesang. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 648f]