Figurirter Choral (1865)
Figurirter Choral [heutige Schreibweise: Figurierter Choral]. Eine kontrapunktische, in allen oder einzelnen Stimmen melodisch bewegte (figurierte) Ausgestaltung des Chorales, sowohl für Gesang mit oder ohne Orchester als auch ganz besonders für Orgel. Die einfachste Art wird wohl von geschickten Organisten zur Begleitung des Gemeindegesanges angewendet und besteht in freien Bewegungen der Mittelstimmen und des Basses mittels durchgehender Noten, Vorhalte etc. zu der in der Ober- oder einer Mittelstimme liegenden oder auch wohl im Pedal genommenen Choralmelodie.
Der figurierte Choral höherer Art hat aber seinen Zweck in sich selbst, ist selbständiges Kunstwerk und kommt für Gesang und Instrumente in größeren Tonwerken vor oder wird, für Orgel gesetzt, als einzelnes Tonstück entweder zum Konzertvortrag oder als Präludium beim Gottesdienst gebraucht. Tüchtige Organisten pflegen eine kunstvoll kontrapunktierende Behandlung derjenigen Choralmelodie, welche nachher von der Gemeinde gesungen werden soll, dem Gemeindegesange selbst vorauszusenden, daher dieser figurierte Orgelchoral auch Choralvorspiel genannt wird.
Seb. Bach, der größte Meister im figurierten Choral, hat diesen auf sehr mannigfaltige Weise behandelt. Entweder liegt die Melodie als Cantus firmus in einer der vier Stimmen und die anderen kontrapunktieren dagegen, meist mit einer festgehaltenen thematischen Figur; oder zwei Stimmen führen die Melodie im Kanon, die anderen kontrapunktieren thematisch dagegen oder sind freie Füllstimmen; oder eine Stimme trägt die Melodie vor und zwei andere machen einen Kanon dazu (letztere beide Arten sind Choralkanons). Häufig wird auch die Choralmelodie selbst, als Thema, meist melodisch und rhythmisch bereichert, mit fugenartigen Einsätzen und Imitationen von allen Stimmen verarbeitet (fugierter Choral); mitunter auch durchaus figuriert, gleichsam eine freie Melodie über den Choral als Grundlage.
Bestimmt abgrenzen lässt sich ein eigentlicher Begriff der Choralfiguration nicht gut, denn er umfasst schließlich jede Behandlung des Chorales mit bewegten Stimmen, die in ihrer Form durch die Verse der Melodie bedingt ist. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 304]