Choral (1882)

Choral

  1. Der Choralgesang (Cantus choralis, Cantus planus) der katholischen Kirche ist der aus dem ersten Jahrhundert stammende sogenannte Gregorianische Gesang (siehe dort). Gregor der Große lebte zwar erst um 600, doch rühren die nach ihm benannten Gesänge nicht von ihm her, sondern sind älter und dem Wesen nach nicht von dem Ambrosianischen Gesang (siehe dort) verschieden. Der Choralgesang wird als Concentus unterschieden von dem mehr bloß rezitierenden Accentus (siehe dort) der von einem einzelnen Priester vorgetragenen Lektionen etc.
    Der Choralgesang entbehrt des Rhythmus. Wie er heute [um 1880] geübt wird, ist er eine Folge gleichlanger Töne von ermüdender Monotonie, welche nur dogmatische Gläubigkeit leugnen kann. Er ist dies aber erst im Laufe der Zeit, besonders seit Aufkommen des Diskantus im 12. Jahrhundert, geworden. Ursprünglich war er sogar sehr lebendig bewegt und besonders der Halleluja- und Psalmengesang einem Jauchzen, Jubilieren vergleichbar. Die endlos langen Silbendehnungen waren ehedem flüchtige, für die deutschen und französischen Sänger unausführbare Verzierungen und Koloraturen. Leider ist der Schlüssel für die Rhythmik der alten Notierungen (Neumen) verloren gegangen, und es scheint keine Hoffnung vorhanden zu sein, dass man den Choralgesang in seiner ursprünglichen Gestalt wiederherstellen könnte.
    Mit dem Aufkommen der mehrstimmigen Musik gesellte sich dem als Cantus firmus oder Tenor unantastbaren Choralgesang zunächst eine parallel in Oktaven oder Quinten (Quarten) mitgehende Stimme (Organum), der man in der Folge die stete Gegenbewegung zur Norm machte (Discantus), und die bald freier gestaltet wurde und einen verzierten Gesang über den Choral ausführte. So gewöhnte man sich allmählich, den Choral als ein starres Gerippe zu behandeln, welches die Kontrapunktisten mit dem Fleisch und Blut belebter Stimmen umkleideten. Der größte Teil der reichen Musikliteratur des 12. bis 16. Jahrhunderts ist auf Tenore aus dem Cantus planus aufgebaut, und noch heute [um 1880] legen die Kirchenkomponisten vielfach ihren Werken Choralmotive zu Grunde. Vergleiche Kirchenmusik.
  2. Der protestantische Choral hat eine ganz ähnliche Geschichte wie der katholische. Als es galt, für die junge reformierte Kirche auch frische, nicht an die Erstarrung des römischen Dogmas erinnernde Gesänge zu schaffen, griff Luther zum Volkslied und zu der damals in hoher Blüte stehenden Komposition mehrstimmiger volksmäßiger Gesänge ("Frische Liedlein" etc.) und nahm dieselben direkt herüber, indem er ihnen geistlichen Text unterlegte. Manche Choräle, zum Beispiel "Ein' feste Burg", sind freilich direkt für die Kirche komponiert worden, aber doch in derselben Form und auch die Dichtung an das einfache Strophenlied von zwei Stollen und Abgesang anlehnend. Auch wurden einzelne katholische Hymnen ähnlichen Charakters herübergenommen. Alle diese Choräle waren von einer prägnanten Rhythmik, sind aber wie der Gregorianische Gesang zur Folge gleichlanger Töne erstarrt. Die Versuche, den rhythmischen Choral wieder aufleben zu lassen, sind bis jetzt gescheitert. Es scheint, dass an der Zerstörung des Rhythmus der Choräle wiederum die Kontrapunktisten Schuld sind, diesmal die deutschen Organisten, welche, wie früher die Kapellsänger, die Hauptvertreter der Komposition wurden. Auch mag der Umstand, dass noch im Laufe des 16. Jahrhunderts die Gemeinde anfing, den Choral mitzusingen, besonders in Kirchen, welche keinen geschulten Sängerchor unterhielten, wesentlich mit darauf hingedrängt haben, die Melodie so zu gestalten, dass sie sich für den gemeinschaftlichen Gesang einer Menge eignete. In dem Maß, wie die Melodie selbst verlangsamte und des Rhythmus verlustig ging, wurde aber eine belebtere Begleitung Bedürfnissache, und die Figuration der Choräle (siehe Choralbearbeitung) entwickelte sich daher bereits im 17. Jahrhundert zu großer Künstlichkeit [Kunstfertigkeit].
    Über die Entstehung des protestantischen Chorals und seine Entwicklung vergleiche v. Winterfeld, "Der evangelische Kirchengesang" (1843-47, 3 Bände). Von protestantischen Kirchenkomponisten, welche besonders den Schatz der Kirchenlieder (Choräle) bereichert haben, sind hervorzuheben: Luther, Johann Walther, Georg Rhau, Martin Agricola, Nikolaus Selneccer, Johann Eccard, Ehrhardt Bodenschatz, Melchior Franck, Heinrich Albert, Thomas Selle, Johann Rosenmüller, Johann Crüger, Georg Neumark, Andreas Hammerschmidt, Joh. Rud. Ahle, Joh. Herm. Schein und Johann Sebastian Bach. Vergleiche Tucher, "Schatz des evangelischen Kirchengesangs im ersten Jahrhundert der Reformation" (1848, 2 Bände).
    Die reformierte Kirche erhielt erheblich später als die lutherische den Choralgesang und zwar zuerst in der Schweiz, wo 50 Psalmen in der Übersetzung von Marot durch Wilhelm Franck mit Melodien versehen wurden (1545), welche 1562 Claude Goudimel einstimmig setzte. Seinem Beispiel folgten Bourgeois und Claudin Lejeune. Auch die englische Hochkirche erhielt noch im Laufe des 16. Jahrhunderts Choralgesänge (einstimmig gesetzte Psalmen).

[Riemann Musik-Lexikon 1882, 163f]