3. Elektronisch transformierte Instrumentalklänge

3.1 Kompositionstechnische Voraussetzungen

1966 verfaßte York Höller seine Staatsexamensarbeit für das Fach Schulmusik mit dem Thema Kritische Untersuchung der seriellen Kompositionstechnik.[1] Als Teilnehmer an den Analysekursen von Pierre Boulez hatte Höller das Serielle ein Jahr zuvor in Darmstadt kennengelernt.[2] Für die Kritik am Serialismus der 1950er Jahre suchte Höller eine übergeordnete, "tragfähige Argumentationsbasis"[3] und er fand sie einmal in der Philosophie Theodor W. Adornos, vor allem in dem Aufsatz Vers une musique informelle,[4] und zum anderen in der Informationstheorie. Beides sollte für sein eigenes kompositorisches Schaffen noch von großer Bedeutung werden, und bereits in der Auseinandersetzung mit seriellen Verfahren vor allem von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen beschränkte sich Höller nicht auf ihre Darstellung und anschließende kritische Hinterfragung, sondern skizzierte gleichzeitig einige Möglichkeiten zur Weiterentwicklung seriellen Komponierens, besonders in Hinsicht auf eine anzustrebende Apperzipierbarkeit der Kompositionen in Zusammenhang mit einer Steigerung ihrer formkonstituierenden Kräfte:

  • "Eine erste Forderung wäre, daß die Überraschungen dosiert sein müßten, d. h., es darf nicht in jedem Moment etwas Neues geschehen, das mit dem Vorausgegangenen in keinerlei Beziehung steht."[5]
  • Der Komponist solle sich die Frage stellen: "In welcher Zeit kann eine Gestalt übers reine Wahrnehmen hinaus emotional-rational verarbeitet werden?"[6]
  • "Die Einbeziehung der Kategorien Wiederholung und Analogie hat den Vorzug, daß sie Kohärenz durch Rückbeziehung und Erinnerung an das Vorausgegangene schafft."[7]
  • "Aber ebenso notwendig wie die Wiederholung und Modifikation bereits bekannter Informationen ist die Formulierung neuer Informationen (Überraschungen)."[8]

Deutlich sind hier Anschauungen der Informationstheorie zu erkennen, die sich in der Forderung nach einer ausgewogenen Mischung von Redundanz und Information zusammenfassen lassen, und ein Einfluß Adornos wird sichtbar, wenn man sich das übergeordnete Ziel dieser Forderung vor Augen führt: die musikalische Logik bzw. Stringenz, die nicht besser bewirkt werden könne "als durch Wiederholung und deren Modifikationen wie Abwandlung, Ähnlichkeit, Entsprechung, Kombination".[9]

Bereits 1967 komponierte Höller ein erstes Werk (Topic für großes Orchester), daß, an die Konzeption einer musique informelle anknüpfend und eine "kybernetische Denkweise" einbeziehend,[10] einige seiner theoretisch formulierten Vorschläge zur Weiterentwicklung des Serialismus verwirklicht; seine erste Klaviersonate von 1968 deutet schon in ihrem Titel als Sonate informelle die konzeptionelle Anlehnung an Adorno an. In den folgenden Jahren entstandene Werke lassen den informationstheoretischen Ansatz deutlich hervortreten, wobei in den oben besprochenen Kompositionen Horizont, Chroma und Tangens zusätzlich Zufallsoperationen eine Rolle spielen, die allerdings weniger an John Cage oder Iannis Xenakis orientiert gewesen seien, "als vielmehr an 'Zufall und Notwendigkeit, philosophische Fragen der modernen Biologie' von Jacques Monod".[11] In Klanggitter treten diese Zufallsmomente, die unter anderem durch experimentellen Umgang mit dem elektronischen Klanginstrumentarium und durch improvisatorische Elemente berücksichtigt worden waren, wieder in den Hintergrund, während Höller in der Zeit der Entstehung von Klanggitter (1976-77) eine andere Anregung aus dem Buch von Jacques Monod aufgreift, die sich in Antiphon (1976), zusammen mit den in der Staatsexamensarbeit bereits gefaßten Gedanken und außerdem mit Ergebnissen von Untersuchungen des Gregorianischen Gesangs, zu seiner bis heute verbindlichen Kompositionstechnik der "Gestaltkomposition" verfestigen sollte. Die Rede ist von der Idee des Kunstwerks als einer organisch wirkenden Einheit, als einem künstlichen Organismus, der sich aus sich selbst entwickelt und bereits in seiner Materialanlage die bestimmenden Wesenszüge in sich trägt.

"So läßt sich denken, daß man ... von einer 'Zelle' ausgeht, diese aber dergestalt anlegt, daß sie den Grundplan für das Ganze bereits in sich trägt, vergleichbar einem 'genetischen Code', der ja - wie wir von der Mikrobiologie her wissen - schon alle wesentlichen artspezifischen Informationen enthält. In diesem Falle stellt sich die Entwicklung als ein kontinuierlicher Projektionsprozeß einer Mikrostruktur in eine Makrostruktur dar. Der Projektionsprozeß darf allerdings nicht schematisch/mechanisch und ohne Rücksicht auf jene eigentümliche innere Logik verlaufen, die wir als Stringenz bezeichnen, sondern er müßte zugleich konsequent als auch flexibel gesteuert werden entsprechend den Bedingungen einer organischen Entfaltung. Die gewissermaßen abstrakt/allgemeine Idee des Codes würde nach und nach in die konkret/spezifische Erscheinung der Endgestalt übergeführt."[12]

Eine Materialdisposition in diesem Sinn stellt Höller seit 1976[13] seinen Kompositionen voran, indem er zunächst eine von ihm so benannte Klanggestalt konzipiert, die, und hierin läßt sich eine deutliche Weiterentwicklung gegenüber der seriellen Materialanordnung durch Reihen erkennen und gleichzeitig eine Parallele zu Stockhausens Formel-Komposition, "über den Zustand des Amorphen sowie den einer bloßen Addition von Elementen hinausgekommen [ist], bereits veritable Gestaltqualität erreicht [hat]".[14]

Diese 'Keimzelle' besteht aus einer unrhythmisierten Melodie, die alle zwölf Stufen der temperierten Skala berücksichtigt, die aber in jedem Fall mehr als zwölftönig ist, da sie die Forderung nach Redundanz erfüllt (Tonwiederholungen, allerdings nicht unmittelbar aufeinander folgend).[15] Die Melodie ist unterteilt in ungleichgroße Abschnitte oder Phrasen, aus denen durch Projektion ins Vertikale die harmonische Grundlage der Komposition geschaffen wird. Eine Zeitgestalt wird aus der Klanggestalt abgeleitet, indem entsprechend der Tonhöhenfolge eine Dauernfolge durch Zuordnung bestimmter Tonhöhen zu bestimmten Zeitdauern erstellt wird;[16] die Zeitwerte werden hierbei einer von Höller ermittelten "'wahrnehmungschromatischen' Skala" entnommen.[17] Bei Benutzung kleiner Werte ergibt sich zunächst eine rhythmische Gestalt, aus der - durch entsprechende Vergrößerung der Werte unter Beibehaltung der Proportionen - dann Taktlängenfolgen und schließlich Abfolge und Längen der einzelnen Formteile ermittelt werden können. Innerhalb der Zeitgestalt wiederholen sich gleichlange Zeitwerte entsprechend der Tonwiederholungen innerhalb der Klanggestalt, und auch inhaltlich ergeben sich Entsprechungen bezüglich des Information-Redundanz-Verlaufs, indem Formteile gleicher Länge als Varianten voneinander auftreten und somit formale Bezüge herstellen, die innerhalb der Klanggestalt durch die Tonwiederholungen angezeigt sind.

Eine Klanggestalt und die abgeleitete Zeitgestalt sind verbindlich für eine gesamte Komposition. In Art einer "permanenten Durchführung" wird diese zugrunde liegende Materialdisposition dann ständigen Veränderungen unterzogen,[18] die keinem determinierten Plan folgen, sondern im Willen zur Erzeugung musikalisch stringenter Entwicklungsprozesse Höllers freier Wahl unterliegen. Als Modifikationen zählt der Komponist auf:[19]

1. Transposition
2. Verwendung von Krebs, Umkehrung und Krebs der Umkehrung wie in der klassischen Zwölftontechnik
3. Transformation durch Stauchung und Spreizung
4. Projektion der Klanggestalt auf ein anderes Objekt, z. B. auf einen Zwölftonakkord, eine Anordnung von instrumentalen Klangfarben oder einen sonstigen, beispielsweise elektronischen, Klangkomplex
5. Abspaltung und Sequenzierung von Segmenten einer Klanggestalt
6. Ableitung neuer Klanggestalten durch nicht-lineare Transformation

3.2 Antiphon

3.2.1 "Genetischer Code" und "Choral imaginé"

Antiphon für Streichquartett und elektronisch transformiertes Streichquartett auf Tonband ist das erste Werk, in dem York Höller von seiner Theorie der Gestaltkomposition Gebrauch machte.

"Mein Streichquartett ANTIPHON steht am Anfang einer Reihe von Werken, in denen es mir darum ging (und geht) ..., eine in sich zusammenhängende musikalische Sprache zu entwickeln, in der die klanglichen und raumzeitlichen Kategorien Melodik, Harmonik, Metrik, Rhythmik, Form verbunden sind. So liegt der Komposition eine 42-tönige, zentraltönige 'Klanggestalt' (nicht 'Reihe'!) zugrunde, die für verschiedene Ableitungen im Bereich der Melodik (z. B. Viertelton-Stauchung), Harmonik, Rhythmik, Klangfarbe (Spielarten), großformale Proportionierung (42 Teile zwischen 4 und 88 Sekunden) verantwortlich ist."[20]

Zur Erstellung der Klanggestalt, die Höller in der Enstehungszeit von Antiphon (1976) und Arcus (1978) noch als "genetischen Code" bezeichnete,[21] definierte der Komponist zunächst ein Tonrepertoire durch folgende Anweisung: Die Töne cis und d sollten jeweils sechsmal enthalten sein, die sich chromatisch nach unten und oben entfernenden Töne jeweils einmal weniger vorkommen, c und es also fünfmal, h und e viermal, b und f dreimal usw.[22] Aus diesem Repertoire mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsverteilung und festgelegter Hierarchie der Töne komponierte Höller frei, ohne prädeterminierte Regelung, allein seiner Intuition, Phantasie und seinem Melodieempfinden folgend, die 42tönige, in sechs unterschiedlich lange Phrasen ge-gliederte Klanggestalt.

Einen sogenannten "Choral imaginé" erhielt Höller anschließend durch diatonische Umformung der recht chromatisch klingenden Klanggestalt,[23] indem er die Versetzungszeichen gewissermaßen als akzidentiell interpretierte und sie aus der Klanggestalt entfernte.[24]


"Choral imaginé" und Klanggestalt zu Antiphon:[25]

Antiphon

Als Symbol erinnert dieser "Choral imaginé" durch seine Ähnlichkeit mit dem Gregorianischen Choral an den Ursprung der abendländischen Musiktradition und gleichzeitig an die Bedeutung dieses liturgischen Gesangs als eine Inspirationsquelle für die Formulierung der Klanggestalttheorie bzw. für die Ausarbeitung der Klanggestalten: Bereits Mitte der 1970er Jahre hatte sich Höller mit der Gregorianik analytisch befaßt, und er habe schließlich aus den Melodien in ihrer "ausbalancierten Mischung aus Vorhersehbarkeit und Unvorhersehbarkeit, aus Ordnung und Unordnung" einige syntaktische Kriterien wie "melodische Eindeutigkeit, an der Sprache orientierte Gliederung, unregelmäßiger Phrasenbau, Teleonomie" herausgefiltert und für seine eigene Musiksprache fruchtbar gemacht.[26] Der "Choral imaginé" erklingt im Abschnitt 30, von erster Violine und Violoncello "ganz im Sinne eines gesungenen Gregorianischen Chorals, rhythmisch frei, dabei im strengsten Unisono" gespielt, um anschließend als "Organum quadruplum in modo Perotini Magni", in Abschnitt 32 dann als "'Motetto' in maniera di Messa Orlando" verarbeitet zu werden.[27]

3.2.2 Elektronische Klangtransformationen

In der zeitlich noch in die live-elektronische Phase (von Chroma, 1972-74, bis Klanggitter, 1976-77) fallenden Komposition Antiphon (1976) verzichtet Höller auf den Einsatz live-elektronischer Mittel. Das bereits erprobte Verfahren der Verbindung von Orchesterinstrumentenklängen mit elektronisch verarbeiteten Instrumentalklängen behält der Komponist jedoch bei, indem er das Streichquartett mit einem elektronisch transformierten Streichquartett auf Tonband kombiniert. Das Auftragswerk für das Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) wurde am 16.03.1977 zur Eröffnung des Centre Pompidou im Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris vom Baseler Streichquartett uraufgeführt.

Zur Realisation des Tonbandes wurde im Studio für Elektronische Musik der Musikhochschule in Köln zunächst eine der Komposition gemäße Metronomspur auf ein Sechzehnspurtonband aufgezeichnet, nach der Höller anschließend in Basel die Einspielungen durch das Baseler Streichquartett dirigierte. Zurück in Köln konnte Höller den auf vier Spuren und in mehreren Abschnitten aufgenommenen Tonbandteil für Antiphon elektronisch verarbeiten. Als Speichermedium diente weiterhin das Sechzehnspurband, auf dessen freien Spuren die Transformationen parallel zu den Originalaufnahmen aufgezeichnet wurden, um Synchronität zu gewährleisten. In der letzten Arbeitsphase wurde die Mischung der Klänge auf ein Vierspurtonband durchgeführt und dieses durch Bandschnitt und Markierung der Anfangsstellen der einzelnen Abschnitte (vermutlich durch Einfügen sogenannten Weißbandes) für die Aufführung vorbereitet.

In der Partitur sind die transformierten Streicherstimmen in traditioneller Notation dargestellt und in maximal zwei Liniensystemen zusammengefaßt. Außerdem werden folgende Angaben bezüglich der elektronischen Verarbeitung gemacht, die vermutlich nur den Teil der eingesetzten elektronischen Mittel benennen, der für die Orientierung beim Mitlesen bzw. Dirigieren nötig oder hilfreich ist: "Ringmodulation" (Abschnitt 1), "transformiert und stark verhallt" (Abschnitt 8), "Frequenzmodulierte Ringmodulation" (Abschnitt 24), "Ringmodulations-Frequenzen" (in Abschnitt 25 notiert), "Filtermodulation" (Abschnitt 30), "Abwärtstransposition mit Transponiergenerator" (Abschnitt 42). Von Abschnitt 8 bis zur ersten Zählzeit von Abschnitt 10 ist außerdem ein Synthesizer vermerkt, der zur Erzeugung tiefer Einzeltöne eingesetzt wurde. Bis auf diese Ausnahme basiert das Klangmaterial des Zuspielbandes ausschließlich auf den in Basel aufgenommenen Streicherklängen, was sich, solange die Klänge nicht in sehr hohe oder tiefe Lagen transponiert wurden, hörend verifizieren läßt, da die Transformationen zeitweise relativ dezent eingesetzt werden - Ringmodulation, schwache Verhallung und ein Herausfiltern hoher Frequenzbereiche scheinen vorzuherrschen[28] - oder zumindest in einer Art, der den Ursprung der elektronisch verarbeiteten Streicherklänge weiterhin erahnen läßt. Demgegenüber werden den Interpreten der Aufführung manche - an den traditionellen
Spielarten gemessen - unkonventionelle Spieltechniken abverlangt, deren Klangergebnisse schon schwieriger als Streicherklänge zu identifizieren sind. Innerhalb des Bemühens, "verschiedene Lösungen für das (ästhetische) Problem der Verschmelzung von instrumentalem und elektronischem Klang zu finden",[29] wählte Höller für Antiphon vielleicht bewußt den Weg einer beidseitigen Annäherung: Während der elektronisch transformierte Teil die instrumentale Abstammung der Klänge relativ deutlich erkennen läßt, dringt das real spielende Streichquartett in atypische Klangbereiche vor, um am Schluß von Antiphon durch ein zur kontinuierlichen Abwärtstransposition des transformierten Streichquartetts satztechnisch gegenläufiges, klanglich aber entgegenkommendes und vielleicht symbolhaft sich annäherndes Aufwärtsglissando im verschmelzenden, fast kompletten Zwölftonklang zu enden.

3.3 Arcus

3.3.1 "Code", "Grundgestalt"

Arcus von 1978 wurde am 13. Oktober desselben Jahres vom Ensemble InterContemporain unter der Leitung von Peter Eötvös zur offiziellen Eröffnung des IRCAM in Paris uraufgeführt. Bereits wenige Tage später kam es zur deutschen Erstaufführung dieses Werkes für Kammerorchester und elektronisch transformierte Instrumente auf Tonband bei den Donaueschinger Musiktagen vom 20. bis 22. Oktober 1978. Im Programmheft der Musiktage gibt Höller zu seiner zweiten auf einer Klanggestalt basierenden Komposition Erläuterungen, die hier in einiger Ausführlichkeit wiedergegeben werden sollen, da sie zum einen konkrete Informationen zu Arcus liefern, zum anderen Auskunft über Höllers Umgang mit einer Klanggestalt (hier noch "Code" und "Grundgestalt" genannt) geben, die, in Anwendung auf ein konkretes Werk, als Beleg und Ergänzung des oben unter 3.1 allgemein zur Klanggestalt-Kompositionstechnik Gesagten dienen möge.

"ARCUS ist 'absolute' Musik und will nichts anderes sein. In diesem Rahmen jedoch verkörpert das Stück eine ganz bestimmte grundlegende Idee, die sich - auf den kürzesten Nenner gebracht - im 'Willen zur Synthese' manifestiert: der Synthese von 'natürlichen' und elektronisch erzeugten Klangebenen sowie von qualifizierenden und quantifizierenden Kompositionsprinzipien, von 'klangzentral-hierarchischem', seriellem und informationstheoretischem Musikdenken.

Konkretes Sinnbild dieser Idee, zugleich 'Schlüssel' ('Code') für die Gesamtgestaltung des Stückes ist die abgebildete 'Grundgestalt', die - und hierauf bezieht sich der Titel 'Arcus' (lateinisch 'Bogen') - bogenförmig/ganzheitlich angelegt ist. Ihre Kennzeichen sind ein deutliches 'Wahrnehmungszentrum' (der Zentralton D) und ein Informationsverlauf, der nach Gesichtspunkten der musikalischen Logik gestaltet ist. Deren Nachvollzug wird meines Erachtens erleichtert, indem man die Gestalt einmal durchsingt oder 'durchhört'.

Diese Grundgestalt ist verantwortlich für Melodik, Harmonik, Rhythmik, Gegenwartsdichte, Makrozeit, Form; auch dient sie als 'Code' für die Programmierung des Computers, mit dessen Hilfe die elektronischen Transformationen der Instrumentalklänge auf Tonband vorgenommen wurden. Die Grundgestalt wird, rhythmisiert, gleich zu Beginn des Stückes in Form einer 'Klangfarbenmelodie' vorgestellt. - Wie sich die Harmonik aus der Grundgestalt ergibt, ist aus der Abbildung klar ersichtlich: einzelne melodische Abschnitte wurden in die Vertikale projiziert; die so entstehenden Basisakkorde habe ich im Verlauf des Stückes in Grundstellung, Umkehrungen, 'weiter' und 'enger' Lage sowie in Kombinationen miteinander benutzt. - Die Transkription der Grundgestalt auf die Zeit geschah entsprechend der »Ordnung des Ganzen nach einem Maß, dessen Gesetz die Wahrnehmungsfähigkeit des Hörers ist« (K. H. Wörner). So galt es zunächst, eine Zeitdauern-Skala zu errichten, die in ihrer 'Wahrnehmungsqualität' - d. h. hinsichtlich der Differenziertheit und Deutlichkeit ihrer Stufen - der chromatisch-temperierten Skala entspricht. Zu diesem Zweck machte ich bereits vor einigen Jahren Versuche zum Vergleich von Zeitlängen, die ergaben, daß die 'Wahrnehmungsschwelle' bei einem Verhältnis von etwa 5:6 liegt, ein Ergebnis, das ich später durch den lnformationstheoretiker A. A. Moles bestätigt fand. So beruht die gesamte Zeitgestalt von ARCUS auf einer Skala zwischen 0,05 und 42 Sekunden, die den Ebenen der Rhythmik, der Gegenwartsdichte und der Makrozeit zugrunde liegt. Die eigentliche Transkription geschah so, daß ich dem Zentralton der Grundgestalt die längste Zeitdauer, den chromatisch nach oben und unten sich entfernenden Tönen die jeweils nächstkürzeren Dauern zugeordnet habe. Dadurch entsteht ein zeitliches 'Gravitationszentrum', die melodische Logik schlägt um in zeitliche, die Tongestalt erzeugt eine 'Zeitgestalt'. - Die Formfelder wiederum sind entsprechend ihrer Kennzeichnung (a1, b1, a2...) musikalisch aufeinander bezogen, und zwar nach Art von freien Varianten, keineswegs nach starren Prinzipien. Überhaupt darf aus der strengen
Anlage des Stückes durchaus nicht der Schluß gezogen werden, sie habe das Maß der Gestaltungsfreiheit unerträglich eingeschränkt. Das ist nicht der Fall: Denn was sich mit dem Grundmaterial in den Formfeldern ereignet, ist - wie stets - Ergebnis der Phantasie, braucht im übrigen nicht weiter beschrieben zu werden, da es ja jeder selbst hört."[30]

Arcus

Die in sieben Abschnitte gegliederte Klanggestalt zu Arcus ist also "bogenförmig/ganzheitlich angelegt". Innerhalb des zunächst wellenartigen Melodieverlaufs, der Assoziationen mit einer graphischen Darstellung der Bewegungsform einer schwingenden Sehne eines gespannten Bogens erlaubt, wird ein übergeordneter bogenförmiger (Spannungs-)Verlauf durch die jeweils höchsten Töne der einzelnen Abschnitte erzielt, die sich bis zum markierten höchsten Ton h im letzten Abschnitt um je einen Halb- oder Ganzton steigern, um dann zum ebenfalls markierten tiefsten Ton c der Klanggestalt abzufallen. Da sich der höchste und der tiefste Ton der Klanggestalt, die den Ambitus einer großen Septime aufweist,[31] im letzten, eine komplette Zwölftonreihe präsentierenden Abschnitt befinden, ergibt sich eine unsymmetrische Bogenform. Ein bogenartiger Eindruck wird zudem dadurch verstärkt, daß sich der Großteil der Tonhöhen oberhalb des Tonhöhen-Niveaus des Zentraltons d befindet - einzige Ausnahmen bilden der Zentralton selbst, der in sechs Abschnitten der sieben Abschnitte je einmal vorkommt, der Ton cis bzw. des in den Abschnitten 2, 3, 6 und 7 sowie der tiefste Ton der Klanggestalt im letzten Abschnitt. Gewissermaßen 'eingespannt' ist dieser Bogen bzw. die Klanggestalt in den identischen Anfangs- und Endton d, was Höller als geschlossene Form bezeichnet gegenüber der offenen Form einer Klanggestalt beispielsweise von Antiphon, deren Anfangs- und Endton nicht identisch sind.[32]

3.3.2 Computergesteuerte elektronische Klangtransformationen

Während Höller seine erste Auftragskomposition für das IRCAM, das oben besprochene Werk Antiphon, noch in Köln realisierte, da die Pariser Produktionsstätte 1976 noch nicht betriebsbereit war, konnte er 1978 schließlich im von Pierre Boulez geleiteten Forschungszentrum tätig werden, um dort den Tonbandteil des zweiten Kompositionsauftrags für das IRCAM zu erstellen. Wieder konzentrierte sich der Komponist auf die elektronische Verarbeitung von Orchesterinstrumentenklängen, und wie bei Antiphon wurden zunächst von den
Instrumentalisten, die schließlich auch das Werk uraufführten, die zu verarbeitenden Passagen eingespielt. Nun aber bot sich Höller zum erstenmal die Möglichkeit, mit einem Computer zu arbeiten und die elektronischen Transformationsprozesse computergesteuert vornehmen zu lassen.

"York Höller a travaillé pendant deux mois à l'Ircam en 1978 pour réaliser cette oeuvre. Il a tout d'abord demandé aux musiciens de l'Ensemble Intercontemporain d'enregistrer directement dans l'ordinateur un grand nombre de motifs instrumentaux issus de la partition. Ces sons ont ensuite été 'traités', c'est-à-dire transformés de multiples façons par l'ordinateur, selon un code fixé par le compositeur qui engendre la structure de la partie électronique et de la partie instrumentale, un peu comme le code génétique engendre une structure biologique."[33]

Eine grundlegende Idee der Gestaltkomposition, eine Klanggestalt solle in der Art eines genetischen Codes schon spezifische Anlagen der Komposition in sich tragen, erhält hierbei weiterreichende Bedeutung: Nicht nur "Melodik, Harmonik, Rhythmik, Gegenwartsdichte, Makrozeit, Form" werden abgeleitet,[34] sondern auch die Klangfarbenveränderungen können, über den Bereich der Anschlagsarten hinaus und auf direktere, sozusagen lineare Weise, mit dem Melodieverlauf der Klanggestalt verknüpft werden, indem diese "als 'Code' für die Programmierung des Computers, mit dessen Hilfe die elektronischen Transformationen der Instrumentalklänge auf Tonband vorgenommen wurden", dient. Die metaphorisch als 'genetischer Code' bezeichnete Klanggestalt wird überführt in einen konkreten digitalen Code.

Zwei Mitarbeiter des IRCAM übernahmen die Transkription des musikalischen Parameterverlaufs der Klanggestalt in eine Computersprache, die ein von Max V. Mathews entwickeltes Programm zur synthetischen Klangerzeugung und zur Klangverarbeitung digitalisierter Klänge als Steuerbefehle interpretieren konnte.[35]

"Pour être compris par l'ordinateur, ce code a dû être transcrit par des musiciens et des programmeurs - principalement Stanley Haynes et David Wessel - dans un langage informatique. Ce langage, développé à l'Ircam à partir du programme Music V, permet non seulement de synthétiser des sons entièrement artificiels, mais aussi - ce qui est le cas ici - de transformer des sons naturels."[36]

Nach Maßgabe des digitalen Steuercodes konnten anschließend die Instrumentalklänge, die bei der Aufnahme mittels Analog-Digital-Wandlern direkt in den Computer eingespielt worden waren, den elektronischen Transformationen unterzogen werden, die Höller vorher "in einem einheitlichen Kompositionsprozeß gleichzeitig ('kontrapunktisch') mit der Partie des Live-Orchesters fixiert" hatte;[37] "alle Transformationsvorgänge, d. h. alle frequenzmäßigen und zeitlichen Bewegungen von Ring-, Amplituden-, Klangfarbenmodulatoren usw. wurden von dem Code gesteuert".[38] Beispielsweise ist gleich nach dem Start des Vierspurtonbands, dessen Startpunkt durch den Paukeneinsatz markiert wird und dem die Exposition der Klanggestalt durch die 17 Instrumentalisten in Art einer Klangfarbenmelodie vorausgegangen war - jedem Ton der Klanggestalt ist eine eigene Klangfarbe zugeordnet -, eine amplitudenmodulierte Struktur in tiefen Lagen zu hören, deren Modulationsgeschwindigkeit durch den Code gesteuert wird.[39]

Als Computer stand ein PDP 10, ein Non-Realtime-Systeme zur Verfügung, der "sich durch eine bemerkenswerte Langsamkeit" auszeichnete.[40] Verlängert wurden die benötigten Rechenzeiten noch dadurch, daß sich mehrere parallel im IRCAM arbeitende Komponisten und Wissenschaftler die Rechenleistung des Multitasking-Systems teilen mußten. Die Transformationen für Arcus, die nach korrekter und zufriedenstellender Berechnung wieder analog gewandelt und auf das für die Aufführung benötigte Tonband überspielt wurden, konnten schließlich nur deshalb rechtzeitig fertiggestellt werden, weil Höller die Möglichkeit eingeräumt worden war, den Computer auch nachts zu nutzen.[41]

Seine ersten Erfahrungen im Umgang mit dem Computer faßt Höller sechs Jahre später in einem Aufsatz, in dem er den Computer bezüglich der Entwicklung elektronischer Klangsynthesemöglichkeiten allgemein als "letzte und interessanteste Stufe in dieser Entwicklung" bewertet, folgendermaßen zusammen:

"Im übrigen ist Gelassenheit angebracht, wenn man sich auf den Computer einläßt. Denn er hat seine Tücken, das soll nicht verschwiegen werden. Vor allem jene Spezies der Non-Realtime-Systeme zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Langsamkeit aus. Wartezeiten von mehreren Stunden für die Synthese von wenigen Klangsekunden sind nicht außergewöhnlich. Immerhin kann man 'Hippoptamus' - so unser Spitzname für den Computer PDP 10 bei IRCAM - auch selbständig nachts arbeiten lassen. Man findet dann, wenn man Glück hat, am nächsten Morgen entweder die komplette Klangstruktur vor, was allerdings relativ selten ist und unweigerlich zu wahren Ovationen führt, oder die Klangstruktur reißt irgendwo in der Mitte ab, oder man findet überhaupt nichts vor, weil sich ein Fehler ins Programm eingeschlichen hatte, oder - und das ist das infamste - es gibt in einer sonst einwandfreien Struktur irgendwo einen 'Click': eines von ca. 25.000 'Samples' pro Sekunde, mit denen der Klang aufgebaut wird, ist aus der Reihe gesprungen, hat sich verselbständigt, was unvermeidlich zu einem winzigen elektronischen Knacks führt, der die ganze Struktur unbrauchbar macht."[42]

Der in diesem Aufsatz insgesamt aber positiv dargestellte Eindruck Höllers bezüglich digitaler Klangerzeugungs- und Klangverarbeitungsmöglichkeiten ist unter anderem sicherlich auf seine ersten im IRCAM gemachten Erfahrungen zurückführbar, durch die er feststellen konnte, daß seine kompositorische Idee der Ableitung musikalischer Parameter und formkonstituierender Elemente aus einer Klanggestalt auf sehr anschauliche Weise auch auf den Klang anwendbar ist.

3.4 Umbra

3.4.1 Klanggestalt

In einer Zusammenstellung Höllers, in der er alle bis 1998 verwendeten Klanggestalten notierte,[43] sind zunächst die oben besprochenen Klanggestalten zu Antiphon (inklusive des "Choral imaginé") und Arcus wiedergegeben. Die dritte dargestellte Klanggestalt liegt nun insgesamt fünf Werken zugrunde, den 1979 komponierten Moments musicaux für Flöte und Klavier, dem ebenfalls ausschließlich für traditionelle Instrumente geschriebenen Pas de trois für Viola, Violoncello und Kontrabaß (1982), dem noch zu besprechenden Werk Mythos (1979-80), dem dritten Kompositionsauftrag für das IRCAM Résonance (1981) sowie der Komposition Umbra für großes Orchester und Tonband, die Höller 1979, also im selben Jahr wie die Moments musicaux und Mythos begann und im Januar 1980 zum Abschluß brachte.[44] Die Klanggestalt besteht aus 34 Tönen, sie beginnt und endet mit dem Ton es, bildet also eine geschlossene Form, und sie ist in der erwähnten Zusammenstellung in sechs Phrasen unterteilt, die durch Projektion ins Vertikale das harmonische Gerüst darstellen. Außerdem leitet Höller aus der Unterteilung der Klanggestalt die großformale Anlage der Kompositionen ab.


Klanggestalt zu Umbra, Mythos, Résonance, Moments musicaux, Pas de trois:

Umbra

Zumindest die Phrasierung ist nun aber nicht verbindlich für alle genannten Werke, die auf diese sechsteilig notierte Klanggestalt rekurrieren, denn beispielsweise beschreibt Höller sie für Pas de trois als "eine 34tönige, in fünf Abschnitte (vertikal: Akkorde) unterteilte 'Klanggestalt' (Melodie)", aus der "eine 34gliedrige Form auf dem Hintergrund einer großformalen Fünf-Teiligkeit" entstehe.[45] Auch Umbra weist eine in 34 Abschnitte unterteilte Form auf, die mit einer zusätzlichen Coda abgeschlossen wird. Eine übergeordnete Gliederung, aus der die Phrasierung der Klanggestalt gewissermaßen im Umkehrschluß abgelesen werden könnte, ist allerdings aus der Partitur nicht ersichtlich. Die Exposition der Klanggestalt im ersten Abschnitt macht jedoch deutlich, daß die vermutlich ursprüngliche Einteilung der Klanggestalt in sechs Phrasen für Umbra Gültigkeit hat, denn die unterteilten zweiten Violinen stellen diese sechs Glieder separat vor, indem die Violingruppen die Töne einer Phrase nacheinander spielen und diese solange tremolierend aushalten, bis alle Töne dieser Phrase gleichzeitig erklingen, um anschließend in analoger Weise die nächste Phrase vorzustellen. Hiermit wird auch der kompositionstechnische Projektionsprozeß der Akkord- oder Harmonieableitung klingend abgebildet - die Phrasen der Klanggestalt werden melodisch präsentiert, um bei jedem Phrasenende auch als Harmonie kurz aufzuscheinen. Unterstützt wird die Phrasierung der Klanggestalt durch die Dynamik, da jede Phrase mit einem crescendo vom pianissimo zum mezzoforte vorgetragen wird und dann decrescendierend ausklingt. Das Ende der letzten Phrase und damit der gesamten Klanggestalt wird zudem durch ein ritardando markiert. Hiernach halten die zweiten Violinen die Töne der letzten Phrase (nun ohne tremolo), während erste Violinen und Violen vorhergegangene Phrasen hinzufügen, und bauen diesen gehaltenen Akkord dann bis zum Ende des ersten Abschnitts nach und nach ab. Lediglich der letzte Ton es der Klanggestalt, der zugleich auch ihr erster ist, wird von einer zweiten Violine weiterhin gespielt und bildet zusammen mit dem von einigen ersten Violinen gehaltenen Ton f (der hier den letzten Ton der fünften Phrase darstellt) den kontinuierlichen Übergang in den nun folgenden zweiten Abschnitt von Umbra. In diesem wird dann zunächst ein trillerartiges Motiv, das vielleicht durch Transposition aus den überleitenden Tönen es und f und damit aus der ersten Phrase der Klanggestalt gewonnen wurde, vorgestellt und durch Stauchung, Spreizung sowie teilweise gleichzeitige Umkehrung umgeformt.

Höllers freie Anwendung der kompositionstechnischen Abwandlungmöglichkeiten macht es für den weiteren Verlauf von Umbra und für York Höllers Kompositionen insgesamt häufig recht schwierig, eindeutige Rückbezüge zur Klanggestalt zu finden. Zusammenfassend soll hier für den Beginn von Umbra nur festgehalten werden, daß die in sechs Phrasen gegliederte Klanggestalt vom Orchester (fast ausschließlich von den zweiten Violinen) zunächst komplett exponiert wird, daß die zweiten Violinen danach einen gehaltenen harmonischen Grundklang langsam abbauen, um am Schluß des ersten Abschnitts auf dem letzten Ton der Klanggestalt zu enden, wodurch sich für den ersten Abschnitt in Analogie zur Klanggestalt eine abgeschlossene Form ergibt, und daß dann (allerdings) ein kontinuierlicher Übergang in den nächsten Abschnitt geschaffen wird.

Interessanterweise findet sich solch ein Übergang, aus anderer Perspektive auch als Überlappung oder ein Ineinandergreifen bewertbar, in vergleichbarer Form nicht nur zwischen zahlreichen anderen Abschnitten von Umbra - wodurch zusammenhängende Formglieder mit auf dramaturgische Höhepunkte zielenden Entwicklungsprozessen geschaffen werden - sondern auch die Taktwechsel, die ja ebenfalls von Höller aus der 34tönigen Klanggestalt abgeleitet werden, scheinen nach Maßgabe dieses Prinzips des Ineinandergreifens konzipiert zu sein: Zumindest für den Anfang von Umbra ergibt sich nicht etwa ein 34 Takte umfassendes wiederkehrendes Schema, sondern die Folge der Taktangaben wiederholt sich (in ganz geringen Variationen) nach bereits 33 Takten. Erst wenn der erste Takt einer nächsten Abfolge als gleichzeitig letzter Takt der betrachteten Taktfolge und damit als überlappender Takt interpretiert wird, ergibt sich eine zur 34tönigen Klanggestalt analoge, 34 Elemente umfassende Taktreihung und zugleich stellt sich nur dann das Charakteristikum des 'Geschlossenen' ein, denn erst dadurch beginnt und endet eine solche Taktfolge mit einem 4/4-Takt.

 

Taktwechsel des Beginns von Umbra (Variationen = unmittelbare Vertauschungen bezüglich der ersten Folge von 34 Takten sind grau unterlegt):

 

Taktzählung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Taktangaben in ¼ 4 4 6 5 6 5 7 4 4 3 3 7 5 2 2 3 4 3 2 3 4
Taktzählung 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34
Taktzählung 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Taktangaben in ¼ 5 2 6 7 2 2 3 3 2 4 5 6 4 4 6 5 6 5 7 4 4
Taktzählung
Taktzählung 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Taktangaben in ¼ 3 3 5 7 2 2 3 3 4 2 3 4 5 2 6 7 2 2 3 3 2
Taktzählung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Taktzählung 31 32 33 34
Taktangaben in ¼ 4 5 6 4 4 6 5 6 5 7 4 4 3 3 5 7 2 2 3 4 3
Taktzählung 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34
Taktzählung 1 2 3 4 5 6
Taktangaben in ¼ 2 3 4 5 2 6 7 2 2 3 3 2 4 5 6 4 4 6 5 6 5
Taktzählung 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Taktangaben in ¼ 7 4 4 3 3 5 7 2 2 3 3 4 2 3 4 5 2 6 2 7 2
Taktzählung 28 29 30 31 32 33 34
Taktangaben in ¼ 3 3 2 4 5 6 4/8

 

3.4.2 Elektronisch transformierte Orchesterklänge

Das im Elektronischen Studio der Musikhochschule Köln realisierte Vierspurtonband erklingt zum erstenmal mit Beginn des fünften Abschnitts von Umbra. Auf der ersten Zählzeit des Abschnitts setzt ein sehr tiefes, forte gespieltes c ein im Unisono von Kontrafagott, Violoncello, Kontrabaß und den Spuren 2 und 4 des Tonbands, die über die Kanäle II und IV zu den Lautsprechern rechts vorne und links hinten geschickt werden. Von einigen Kontrabässen durchgehend bis in den ersten Takt des sechsten Abschnitts gehalten und von Spur 4 zunächst mit c, dann zusätzlich mit d und es unterstützt bzw. erweitert, bildet dieser C-Klang den tiefen Klanggrund des fünften Abschnitts. Vorausgegangen war dem Einsatz der tiefen Klangbasis der Wegfall fast aller Bläser, die im zweitletzten Takt des vierten Abschnitts zusammen mit den anderen Instrumenten noch einen fast vollständigen Zwölftonakkord gespielt hatten und insgesamt seit dem Beginn des dritten Abschnitts, den sie durch ihren Einsatz markiert hatten, eingesetzt worden waren. Eingeleitet wurde der fünfte Abschnitt zudem durch ein Abwärtsglissando der Violoncelli sowie eine abwärtsgeführte schnelle Tonfolge der Violinen, die im fünften Abschnitt ebenfalls aussetzen. Im sechsten Abschnitt treten wieder Blechbläser sowie Violen hinzu - auch sie hatten im fünften Abschnitt pausiert - und außerdem erklingt nun erstmals Lautsprecher(gruppe) III rechts hinten, während II zunächst wegfällt und aus IV weiterhin ein tiefer Klanggrund, nun zunächst auf d, zu hören ist, der weiterhin von den Kontrabässen unterstützt und diesmal vom Tonband bis in den nachfolgenden Abschnitt geführt wird. Auch einige Auf- und Abwärtsglissandi der elektronisch verarbeiteten Klänge innerhalb des sechsten Abschnitts werden von den tiefen Streichern mit- oder nachvollzogen. Der Beginn des folgenden Abschnitts wird durch einen Es-Klang im mezzoforte vom Tonband und den tiefen Streichern markiert und von den Streichern wieder bis zum Ende gehalten, außerdem wird nun auch Lautsprecher I links vorne exponiert.

Deutlich ist hier ein Prinzip erkennbar, daß Höller schon in der Exposition von Horizont angewandt bzw. bei dieser ersten Arbeit in einem Elektronischen Studio für sich entdeckt hatte: Die vier Raumpositionen nutzt der Komponist zur Markierung von Formteilen, gleichzeitig stellt er hiermit die Lautsprecherstationen vor, außerdem dienen bereits bekannte Lautsprecherklänge (bei Umbra auch die der Kontrabässe) zur Anbindung aufeinanderfolgender Teile. Ebenfalls der Wegfall der Klänge dient zur Strukturierung der Komposition, und dies beispielsweise am Ende des neunten Abschnitts von Umbra auf das deutlichste, indem nach der Partituranweisung "alle Regler ruckartig zuziehen" quasi ein harter Bandschnitt erzielt wird, der das Ende dieses Abschnitts und gleichzeitig den Beginn des zehnten Abschnitts, in dem das Tonband schweigt, signalisiert. Genau an dieser Stelle, in der das Stück in einen deutlich anderen Charakter umschlägt, endet das oben aufgezeigte Taktfolgeschema in seiner überlappenden Art - der letzte Takt des neunten Abschnitts entspricht dem 33. Glied einer Taktfolge, der erste Takt des zehnten Abschnitts damit dem 34. und gleichzeitig dem ersten eines neuen Teils, in dem nun zum erstenmal auf der Basis von Achteln gezählt wird.

Im Gegensatz zu Horizont erklingen bei Umbra elektronisch transformierte Instrumentalklänge vom Tonband,[46] die Höller wie bei Antiphon und Arcus zunächst hatte einspielen lassen, um sie nach dem erprobten technischen Verfahren auf demselben Mehrspurtonband, dessen erste Spuren zur Einspielung gedient hatten, zu verarbeiten. Auch analog ist die Wahl der zur elektronischen Transformation aufgenommenen Instrumente: Bei Antiphon hatte der Komponist das Streichquartett mit einem verfremdeten kombiniert, in Arcus trat dem Ensemble sein transformiertes Pendant zur Seite und in Umbra verband Höller nun das große Orchester mit einer großen Anzahl elektronisch verarbeiteter Orchesterinstrumente. Bereits dies erklärt zu einem Teil den zeitweise hohen Verschmelzungsgrad oder zumindest den Eindruck von Homogenität, den die von den Interpreten gespielten mit den vom Tonband kommenden Klängen erzielen. Ein anderer Grund liegt in der eben skizzierten Art der Parallelführung und gegenseitigen Unterstützung beider Bereiche - im obigen Fall die gemeinsame Aufgabe für Tonbandklänge und tiefe Streicherklänge, einen Klanggrund zu schaffen.

Bezeichnenderweise wurde der Einsatz des Tonbands eingeleitet durch ein Abwärtsglissando der Violoncelli sowie eine abwärtsgeführte Melodie der Violinen, um als Ziel dann tiefe Frequenzbereiche zu erreichen, die von den Tonbandklängen ausgefüllt werden, unterstützt von denjenigen Orchesterinstrumenten, die in diese 'dunklen' Lagen hineinreichen. Im Kontext mit Umbra äußert sich Höller allgemein über sein Verständnis von Musik und gibt damit gleichzeitig die zusammenfassende Beschreibung des Gestaltcharakters von Umbra wieder, der durch ein homogenes Ineinandergreifen, durch klangliche Verschmelzung von Orchesterklang und Tonbandklang geprägt ist, wobei den elektronisch transformierten Klängen und den tiefen Streicherklängen besonders stark die Funktion des Dunkel-Schattierenden zukommt:

"Die Darstellung des Schattenhaften, Dunkeln, Dämonischen in der Kunst hat auf mich seit frühester Jugend stets eine viel stärkere Anziehungskraft ausgeübt als die Darstellung des Hellen, Heiteren. Erst relativ spät wurde mir anhand von Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik die natürliche Affinität der Musik zur dunkel-dionysischen Welt des Rausches ebenso wie die ursprüngliche Beziehung der bildenden Künste zur hell-apollinischen Welt des Traumes bewußt."[47]


[1] Veröffentlicht in sprachlicher Überarbeitung als Fortschritt oder Sackgasse? Kritische Betrachtungen zum frühen Serialismus, Saarbrücken 1994.
[2] Siehe Beitrag York Höllers im Programmheft Donaueschinger Musiktage 1972, a. a. O.
[3] Manuskript zu einem Vortrag York Höllers am 09.01.1998 im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln mit dem Titel Klanggestalt - Zeitgestalt. Ein neues Formdenken, dargestellt an eigenen Werken (von Antiphon bis Aura) , 15 Seiten, unveröffentlicht.
[4] In: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik IV, Mainz 1962, S. 73-102; erw. Wiederabdruck in: Quasi una fantasia, = Gesammelte Schriften II, hrsg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/Main 1963, S. 365-437.
[5] York Höller, Fortschritt oder Sackgasse? , a. a. O., S. 124.
[6] Ebd., S. 125.
[7] Ebd., S. 126.
[8] Ebd., S. 127.
[9] York Höller, Fortschritt oder Sackgasse? , a. a. O., S. 127.
[10] Programmblattbeitrag Höllers zur Aufführung von Topic am 11.09.1970, in: Musik der Zeit. Sonderkonzert aus Anlaß des Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongresses Bonn 1970, Freitag, 11. September 1970 (Funkhaus Köln, Großer Sendesaal, veranst. v. Westdeutschen Rundfunk); siehe Anhang.
[11] York Höller, Unveröffentlichtes Manuskript Klanggestalt - Zeitgestalt. Ein neues Formdenken, a. a. O.
[12] York Höller, Gestaltkomposition oder Die Konstruktion des Organischen, S. 140, in: Neuland II, 1981/82, S. 140-143.
[13] Die 1976 begonnene und 1977 fertiggestellte Komposition Klanggitter basiert noch nicht auf einer Klanggestalt.
[14] York Höller, Gestaltkomposition oder Die Konstruktion des Organischen, a. a. O., S. 141.
[15] Das ca. 4minütige Stück Improvisation sur le nom de Pierre Boulez bildet beispielsweise eine Ausnahme. Die 1984 entstandene Komposition für Boulez zu seinem 60. Geburtstag basiert auf dem in Tonbuchstaben umgesetzten Namen des französischen Komponisten. In seiner 2. Sonate für Klavier (1986) greift Höller auf drei Motive aus den Etudes d'exécution transcendante und auf ein Motiv aus Unstern von Franz Liszt zurück. Hier benutzt Höller das Material allerdings ebenfalls im Sinn einer Zusammenhang stiftenden 'Keimzelle'.
[16] Vgl. York Höller, Gestaltkomposition oder Die Konstruktion des Organischen, a. a. O., S. 141f.
[17] Ebd.; siehe auch Programmheftbeitrag Höllers zur Uraufführung von Tangens, a. a. O. (siehe Anhang). Höller weist auf den Zusammenhang mit der informationstheoretischen "Schwellenwert-Skala" hin; aufeinanderfolgende Zeitlängen seines 'Zeitwert-Repertoires' stehen im Verhältnis 5:6 zueinander. Diese Proportion spielte schon bei der Ermittlung der Abschnittslängen von Horizont eine Rolle (siehe Kapitel 1).
[18] York Höller, Unveröffentlichtes Manuskript Klanggestalt - Zeitgestalt. Ein neues Formdenken, a. a. O.
[19] Nachfolgende Aufzählung zitiert nach ebd.
[20] Programmblattbeitrag Höllers zu einer Aufführung von Antiphon am 16.01.1998 in der Hochschule für Musik Köln innerhalb des Konzerts B. A. Zimmermann und seine Schüler. Hommage zum 80. Geburtstag des Komponisten.
[21] York Höller, Unveröffentlichtes Manuskript Klanggestalt - Zeitgestalt. Ein neues Formdenken, a. a. O.
[22] Die enharmonischen Verwechslungen sind in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung.
[23] Die kleine Sekunde bzw. übermäßige Prime kommt 17mal vor (ic1=17), Häufigkeit der übrigen Intervalle (in interval classes angegeben):, ic2=9, ic3=8, ic4=2, ic5=1, ic6=4, eine unmittelbare Tonwiederholung kommt, wie in allen von Höller bis heute erstellten Klanggestalten, nicht vor.
[24] Offensichtlich wollte Höller auch im "Choral imaginé" direkte Tonwiederholungen vermeiden und deutete daher einige Töne vor der Umwandlung in ihre Stammtöne enharmonisch um.
[25] Quelle: Eine Klanggestalten in Werken York Höllers betitelte Zusammenstellung (eine Din A3 große Seite) seiner Klanggestalten ließ der Komponist während seines Vortrags Klanggestalt - Zeitgestalt. Ein neues Formdenken, a. a. O., am 09.01.1998 im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln ans Publikum verteilen.
[26] York Höller, unveröffentlichtes Manuskript Klanggestalt - Zeitgestalt. Ein neues Formdenken, a. a. O. "Teleonomie" bedeutet hier "Zielgerichtetheit", vgl. York Höller, zit. nach Heinz-Josef Herbort, York Höller, S. 13, in: Beilage zur CD York Höller. Mythos, Antiphon, Traumspiel, Improvisation sur le nom de Pierre Boulez, hrsg. v. Deutschen Musikrat, Edition Zeitgenössische Musik, Mainz 1993, S. 5-14.
[27] Antiphon für Streichquartett und elektronisch transformiertes Streichquartett (Tonband) (1976, rev. 1984), Partitur, Wiesbaden c. 1980, S. 38-41.
[28] Der Wegfall hoher Frequenzanteile, durch den die transformierten Klänge im Vergleich zu den originalen Streicherklängen etwas an Präsenz einbüßen bzw. gedämpft oder 'schattiert' klingen, mag auch eine Folge des Mehrfachkopierens sein.
[29] York Höller, Zur gegenwärtigen Situation der Elektronischen Musik, a. a. O., S. 457. "Elektronischer Klang" ist in dem dortigen Zusammenhang als Bezeichnung auch für alle mittels elektronischer Geräte transformierter Klänge zu verstehen.
[30] In: Programmheft Donaueschinger Musiktage 1978, a. a. O.; die anschließende Abbildung ist ebenfalls diesem Programmheft entnommen.
[31] Nicht zwangsläufig ergibt sich für die Klanggestalten dieser Ambitus, wie es für Zwölftonreihen, in denen die Oktavlagen irrelevant sind, der Fall ist. Die unten vorgestellte Klanggestalt zu Umbra weist als Ambitus beispielsweise eine große None auf.
[32] Klanggestalt - Zeitgestalt. Ein neues Formdenken, a. a. O.
[33] Dieses Zitat entstammt den über Arcus gespeicherten Informationen der Médiathèque de l'IRCAM (http://mediatheque.ircam.fr/), die als Online-Versionen über das Internet abrufbar sind (http://mac-texier.ircam.fr/textes/c00000042/n00001040/; abgerufen am 10.04.1999); Angaben zu Autor und Jahr fehlen.
[34] Siehe Zitat in Unterkapitel 3.3.1.
[35] Eine kurze Erläuterung zur Funktionsweise des Programms Music V, dessen Vorgängerversionen bereits in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren von Mathews entwickelt worden waren, gibt: Max V. Mathews, John R. Pierce, Der Computer als Musikinstrument, in: Die Physik der Musikinstrumente, = Verständliche Forschung, Heidelberg 1992, S. 170-177.
[36] Quelle: siehe Fußnote 33 dieses Kapitels.
[37] Programmheftbeitrag Höllers zur deutschen Erstaufführung von Arcus, in: Donaueschinger Musiktage 1978, a. a. O.
[38] Programmheftbeitrag York Höllers zu einer Aufführung von Arcus am 14.06.1997, in: Musik der Zeit. Musik und Computer (Hochschule für Musik Köln), im Rahmen der MusikTriennale Köln, 18. Mai bis 15. Juni 1997, hrsg. v. MusikTriennale Köln, F. X. Ohnesorg.
[39] Mitteilung Höllers während seines Vortrag Klanggestalt - Zeitgestalt. Ein neues Formdenken, dargestellt an eigenen Werken (von Antiphon bis Aura) am 09.01.1998 im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln.
[40] York Höller, Zur gegenwärtigen Situation der Elektronischen Musik, a. a. O., S. 456.
[41] Mitteilung Höllers an den Verf. im November 1998.
[42] York Höller, Zur gegenwärtigen Situation der Elektronischen Musik, a. a. O., S. 456.
[43] Diese Klanggestalten in Werken York Höllers betitelte Zusammenstellung (eine Din A3 große Seite) ließ der Komponist während seines Vortrags Klanggestalt - Zeitgestalt. Ein neues Formdenken, a. a. O., am 09.01.1998 im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln ans Publikum verteilen.
[44] Siehe Umbra für großes Orchester und Tonband (1979/80), Studienpartitur, Wiesbaden c. 1980, S. 105; der Abschluß der Komposition ist auf der letzten Seite der Partitur mit "Köln, den 20.1.80" datiert.
[45] Programmheftbeitrag York Höllers zur Uraufführung von Pas de trois am 25.04.1982, in: Wittener Tage für neue Kammermusik 1982, 23./24./25. April 1982 (Städtischer Saalbau, veranst. v. Kulturamt der Stadt Witten u. v. Westdeutschen Rundfunk Köln), hrsg. v. Kulturamt der Stadt Witten, Witten 1982.
[46] Mit einer Ausnahme: In der Partitur ist für Kanal II ein notierter Klang im zweiten Takt des achten Abschnitts mit "El. Orgel" bezeichnet, der mehrmals (teilweise transponiert) wiederholt wird.
[47] Zitiert nach Manfred Karallus, Komponieren heute: Schlangenbeschwörung und Pythagoras verbindend... Der Komponist York Höller, S. 16 u. 18, in: NZfM CXLIV, 1983, H. 11,
S. 14-18.