Einleitung

Utopie und Realität der Elektronischen Musik lautet der Titel eines 1991 im Programmheft zum Rheinischen Musikfest veröffentlichten Aufsatzes.[1] Sein Verfasser, der damals 47jährige Komponist, Pianist und Schulmusiker York Höller, hatte einige Monate zuvor die Nachfolge Karlheinz Stockhausens als künstlerischer Beauftragter des Studios für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln angetreten. In diesem Aufsatz rekapituliert Höller die Geschichte der Elektronischen Musik im allgemeinen, um sein besonderes Augenmerk auf den Werdegang des knapp 40 Jahre zuvor gegründeten WDR-Studios zu richten. Mit der Utopie Ferruccio Busonis[2] über bevorstehende Möglichkeiten, neue Klangwelten mit modernen Musikinstrumenten zu erschließen, eröffnet Höller seine Retrospektive und verweist bald auf den "im Grunde ... zentralen Topos der Elektronischen Musik", auf den von Edgard Varèse benannten "son organisé".[3] Dieser Begriff beinhalte "zum einen ein Klangobjekt, das ein Komponist nicht mehr im Reservoir der traditionellen Instrumental- und Vokalklänge vorfindet, sondern sich selbst schaffen, erfinden muß; zum anderen gibt dieser Begriff in seiner Offenheit keinen Hinweis darauf, wie ein solches Klangobjekt zusammengesetzt sein soll: ob aus Klangelementen, die der Umwelt entnommen sind (konkrete Klänge) oder mit Hilfe von Generatoren erzeugt werden (elektronische Klänge)".[4]

Höller bemüht hier den von Varèse geprägten Terminus des "son organisé" zunächst, um das durch ihn intendierte Moment des Suchens nach neuen, noch unbekannten bzw. ungehörten Klängen zu erfassen. Gleichzeitig benennt Höller alle Klanggrundstoffe, die zur Realisierung eines Klangobjekts im Sinne des "son organisé" mit elektrotechnischen Mitteln denkbar sind: zum einen die konkreten Klänge, also mechanisch erzeugte Schallereignisse, die zur weiteren Verarbeitung in elektrische Schwingungen umgewandelt werden, zum anderen alle direkt mit elektronischen Apparaturen generierten elektrischen Schwingungen im hörbaren Frequenzbereich.

Auf Basis dieser beiden physikalisch unterscheidbaren Klangkonzepte entwickelten sich, so fährt Höller in seinem Aufsatz fort, "zwei ästhetische Richtungen, die musikhistorisch bedeutungsvoll wurden: die 'musique concrète', vertreten durch die sogenannte 'Pariser Schule' um Pierre Schaeffer, und die 'Elektronische Musik', deren Entstehung auf die sogenannte 'Kölner Schule' zurückgeht".[5] Hatten sich die Komponisten bei der Erschließung neuen Klangterrains in den 1950er Jahren zunächst auf die eine oder die andere Möglichkeit der Realisierung des "son organisé" beschränkt, konzentrierte sich also die musique concrète in Paris auf die Musikalisierung konkreten Materials, während die Elektronische Musik Kölner Provenienz ausschließlich auf elektronisch generierte Klänge zurückgriff, so sei es spätestens in den 1960er Jahren zu "einer deutlichen Abkehr von der 'puristischen' Ästhetik der frühen fünfziger Jahre" gekommen:[6] Innerhalb der sogenannten Kölner Schule wurden nun auch mechanisch erzeugte Klänge berücksichtigt, indem sie entweder als Grundmaterial zur weiteren elektronischen Verarbeitung dienten oder aber im Konzertsaal, von Musikern auf traditionellen Instrumenten gespielt, neben die aus den Lautsprechern abgestrahlten elektronischen Klänge traten.

Der konstatierte Purismus der frühen 1950er Jahre bestand also seitens der im Umfeld des Kölner Studios agierenden Komponisten zunächst im Bestreben, allein auf rein elektronisch erzeugte Klänge zurückzugreifen. Innerhalb dieser klangkonzeptionellen Beschränkung fand allerdings bald nach den ersten Klangexperimenten im WDR-Studio eine weitere Eingrenzung statt, die mit einer Begriffsumdeutung einherging: Aus den 'elektronisch generierten Klängen' wurden 'von Generatoren erzeugte Klänge'. Schließt die erste Variante noch alle Arten von elektronischen Klängen ein, solange sie von irgendwelchen elektronischen Geräten direkt generiert, sprich erzeugt werden - ihr liegt die allgemeine Bedeutung von lat. 'generare' zugrunde - so sind im zweiten Fall nur noch diejenigen elektronischen Klänge gemeint, die mit Generatoren erzeugt werden - der Terminus technicus 'Generator' bezeichnet hier spezielle elektronische Apparaturen der Meß- und Prüftechnik.

Die folgende Untersuchung wird sich bemühen, diesem sprachlichen Problem Rechnung zu tragen. Sobald von elektronisch generierten Klängen, oder kurz von elektronischen Klängen die Rede ist, soll auf die allgemeine Begriffsdefinition Bezug genommen sein, deren Aussagewert einzig darin besteht, auf den rein elektronischen Ursprung der Klänge hinzuweisen.[7] In diesem Sinn dient die Bezeichnung als Sammelbegriff für die Ergebnisse so unterschiedlicher klangerzeugender Geräte wie dem vor allem von Werner Meyer-Eppler benutzten Melochord, den in den 1950er Jahren unter anderem von Karlheinz Stockhausen favorisierten Sinusgeneratoren, den später hinzugekommenen Analog- und dann Digitalsynthesizern oder den mit Syntheseprogrammen ausgestatteten Computern. In Abgrenzung hierzu sollen konkrete Klänge, also Schallereignisse mechanischen oder auch organischen Ursprungs, die zur weiteren Verarbeitung mittels entsprechender Hilfsmittel in elektrische Schwingungen überführt wurden, als elektronisch verarbeitete oder elektronisch transformierte Klänge bezeichnet werden, wenn sie denn anschließenden Verarbeitungsprozessen unterzogen wurden; dies ungeachtet der Tatsache, daß die elektronisch erzeugten Klänge selbstverständlich auch elektronisch weiterverarbeitet werden können.

Die Erörterung der Verwendung elektronischer Klänge in der Musik York Höllers wird sich allerdings nicht auf den einen klangkonzeptionellen Teil des "son organisé" beschränken. Höller hatte in seinem Aufsatz von 1991 eine ästhetische Wende der Elektronischen Musik anhand des Einbezugs konkreten Klangmaterials und anhand der Kombination von elektronischen mit live gespielten Instrumentalklängen festgemacht. Ein Motiv hierfür sei die Erfahrung gewesen, "daß es ein äußerst mühseliges, fast aberwitziges Unterfangen ist, allein mit Sinus-, Rechteck- und Impulsgeneratoren Klangstrukturen herzustellen, deren Komplexität an 'natürliche' Klänge heranreicht".[8] Diese Erfahrung hat Höller, wie er anschließend bemerkt, bei der Realisation seines ersten Werkes Elektronischer Musik selbst gemacht. Und auch er ist hiernach - in zeitversetzter Parallelität zur Geschichte der Elektronischen Musik - dazu übergegangen, konkretes Klangmaterial elektronisch zu verarbeiten sowie elektronische Klangerzeugung und/oder -verarbeitung mit Orchesterinstrumenten zu kombinieren. Auch Höller hat also eine erste Beschränkung auf elektronische Klänge bald zugunsten einer Klangmaterialerweiterung aufgehoben.

Eine Aufgabe der folgenden Arbeit muß es daher sein, die verwendeten elektronischen Klänge im Zusammenhang mit den innerhalb eines Werkes hinzutretenden konkreten Klängen, Instrumental- und auch Sprachklängen, zu betrachten. Außerdem sollen, um beispielsweise eine mögliche werkübergreifende Interdependenz oder Entwicklungstendenzen bezüglich der Klangbehandlung feststellen zu können, Kompositionen Berücksichtigung finden, in denen York Höller zwar auf elektronisch generierte Klänge gänzlich verzichtet, in denen er aber von der elektronischen Verarbeitung konkreter Klänge Gebrauch macht. Die Erörterung wird hierzu, sich an der Werkchronologie orientierend, einige geeignet erscheinende Werke exemplarisch herausgreifen und die jeweils verwendeten Klänge bezüglich elektronischer Klangerzeugungs- und/oder Klangverarbeitungstechniken untersuchen, um sie anschließend innerhalb ihres auditiven Umfelds, des Gesamtklangs zu betrachten. Dieser Gesamtklang fußt, als auditives Endprodukt kompositorischer Arbeit, auf eben dieser Arbeit, durch die ein Zusammenhang der verwendeten Klänge und, allgemeiner, der musikalische Kontext erst geschaffen wird. Es wird daher auch nötig sein, die Klänge in Bezug zur musikalischen Konzeption und kompositionstechnischen Ausarbeitung der Werke zu setzen.

Gegen Ende des angeführten Aufsatzes bemerkt Höller: "Der 'son organisé' ist, für sich allein betrachtet, und sei er noch so raffiniert gewebt, kaum mehr als ein musikalisches Stoffmuster, anders gesagt: Der Klang als solcher ist wenig wert. Erst durch den musikalischen Zusammenhang und durch seine Bestimmung in Hinsicht auf einen angestrebten Ausdruck erhält er Bedeutung und Gewicht."[9] Und Höller beendet seinen Abriß der Geschichte der Elektronischen Musik und die Überlegungen zum 'son organisé' mit dem Appell: "Schaffen wir also neue Zusammenhänge zwischen den herkömmlichen Instrumenten, der menschlichen Stimme und der Elektronik, zwischen Expression und Klang, Spontaneität und Konstruktion!"[10]
Unter besonderer Berücksichtigung der eingesetzten elektronischen Mittel gilt es, diesen Zusammenhängen in York Höllers Schaffen nachzugehen.


[1] York Höller, Utopie und Realität der Elektronischen Musik, in: Rheinisches Musikfest 1991 Köln 10. bis 19. Mai (veranstaltet v. Westdeutschen Rundfunk und der Stadt Köln in Zusammenarbeit mit dem Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen), [Programmheft], o. O. 1991, S. 34-43.
[2] Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Triest 1907, zweite, erweiterte Ausgabe, Leipzig 1916.
[3] York Höller, Utopie und Realität der Elektronischen Musik, a. a. O., S. 34.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Ebd., S. 39.
[7] Dies entspricht auch Werner Meyer-Epplers Intention, als er 1949 den aus dem Anglo-Amerikanischen entlehnten Begriff ins Deutsche übertrug. In Abgrenzung zu den "elektrisch angetriebenen Musikinstrumenten" bezeichnete Meyer-Eppler die "mit rein elektrischer Klangerzeugung und -wiedergabe" arbeitenden Instrumente als "elektronische Musikinstrumente", allerdings noch ohne weiter zu differenzieren zwischen elektronischen (z. B. Melochord, Trautonium, Analogsynthesizer) und mechanisch-elektronischen (z. B. Dynamophone, Hammondorgel) Instrumenten (W. Meyer-Eppler,
Elektrische Klangerzeugung. Elektronische Musik und synthetische Sprache
, Bonn 1949, S. 2). Die genannte Differenzierung trifft beispielsweise Wolfgang Voigt, Elektronische und mechanisch-elektronische Musikinstrumente, in: Fünf Jahrhunderte Deutscher Musikinstrumentenbau, hrsg. v. H. Moeck, Celle 1987, S. 313-340.
[8] York Höller, Utopie und Realität der Elektronischen Musik, a. a. O., S. 39.
[9] Ebd., S. 43.
[10] Ebd.