Musiklexikon: Was bedeutet Leitmotiv?

Der musikalische Fachbegriff "Leitmotiv", erläutert von berühmten Musikologen Hugo Riemann in seinem ebenso berühmten Musiklexikon von 1882.

Leitmotiv (1929)

Leitmotiv, von Hans von Wolzogen geprägter Terminus für öfter wiederkehrende Motive von rhythmischer und melodischer oder auch harmonischer Prägnanz, welche durch die Situation, bei der sie zuerst auftreten, oder durch die Worte, zu denen sie zuerst gebracht werden, eine symbolische Bedeutung erhalten und überall, wo sie wiederkehren, die Erinnerung an jene Situation wachrufen.

Die den früheren Komponisten keineswegs ganz fremde Benutzung solcher Assoziationen ist von Richard Wagner zum Prinzip der Formgebung seiner Musikdramen erhoben worden. Wagners eigener Ausdruck für das Leitmotiv ist jedoch "Grundthema". In der freien Umbildung charakteristischer Motive als episches Element der musikalischen Formgebung hatte Wagner vielleicht seinen bedeutendsten Vorgänger in Carl Loewe (in dessen Balladen). Schließlich sind aber alle Refrains und Ritornelle von dem Leitmotiv ähnlicher konstruktiver Bedeutung. Vgl. zur Geschichte des Leitmotivs: E. Bücken, Die heroische Oper (1924); E. Istel, Das Kunstwerk R. Wagners (2. Aufl. S. 61f). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, ]

Leitmotiv (1882)

Leitmotiv nennt man in neueren Opern, Oratorien, Programmsymphonien etc. (besonders bei Wagner, welcher dem Leitmotiv erst die bedeutende Rolle zuwies, die es heute spielt) ein öfters wiederkehrendes Motiv von rhythmischer und melodischer, auch wohl harmonischer Prägnanz, welches durch die Situation, bei der es zuerst auftrat, oder durch die Worte, zu denen es zuerst gebracht wurde, eine eigenartige Bedeutung erhält und überall, wo es wieder auftritt, die Erinnerung an jene Situation wachruft.

Ganz fremd war die Idee des Leitmotivs auch unseren Klassikern nicht, doch erscheint es bei ihnen zumeist nur in der Gestalt einer ungefähren Charakteristik der verschiedenen Personen (vergleiche die Leporello-Terzen im "Don Juan", die Kaspar-Bassfiguren im "Freischütz" etc.); mit voller Bedeutsamkeit tritt es zuerst im "Fliegenden Holländer" und "Lohengrin" auf. In seinen späteren Opern hat Wagner den Gebrauch der Leitmotive außerordentlich gesteigert und eine faktische thematische Einheit der ganzen Oper durchgeführt. Doch ist es nicht ganz leicht, denselben überall zu folgen, weil sie in zu großer Zahl auftreten, so dass H. v. Wolzogens "Führer durch den Ring des Nibelungen" in der Tat für nicht gut vorbereitete oder minder begabte Hörer ein nicht ganz unnötiges Hilfsmittel ist. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 516]