Contrapunkt (1807)
Contrapunkt [heutige Schreibung: Kontrapunkt]. In demjenigen Zeitalter, in welchem die mehrstimmige Musik ihre erste Ausbildung erhielt, bediente man sich auf dem Liniensysteme statt unserer Noten bloßer Punkte. Wenn man daher zu einer Melodie noch eine oder mehrere Stimmen setzen wollte, so musste man gegen schon vorhandene Punkte andere Punkte setzen - oder man musste kontrapunktieren. Dieser Ausdruck hat sich als Kunstwort erhalten, so dass anjetzt das Wort Kontrapunkt, in seiner weitläufigeren Bedeutung, den Inhalt alles dessen, was zum harmonischen Teil der musikalischen Setzkunst gehört, bezeichnet; daher sind auch die Redensarten: den Kontrapunkt studieren und die Harmonie studieren von völlig gleicher Bedeutung [um 1800].
Man braucht dieses Wort aber auch bei dem Studium dieser Wissenschaft in einem engeren Sinne und versteht darunter oft die besondere Beschaffenheit der zu einem Gesang gesetzten Stimmen. Sind diese Stimmen so beschaffen, dass sie sich umkehren lassen, das heißt, dass die Oberstimme zur Grundstimme oder die Grundstimme zur Oberstimme gemacht werden kann, ohne dass dadurch die harmonischen Regeln verletzt werden, so nennt man den Satz einen doppelten Kontrapunkt, und von diesem soll in einem besonderen Artikel gehandelt werden; lassen sich aber diese Stimmen ohne Verletzung der Regeln nicht umkehren, so wird der Satz ein einfacher Kontrapunkt genannt.
Dieser einfache Kontrapunkt kann teils in Anlehnung der Zahl der Stimmen, die zu einem Gesang gesetzt werden, verschieden sein, das heißt, er kann zwei, drei, vier und mehrstimmig sein, teils können sich diese zu einem Gesang zu setzenden Stimmen durch ihre eigentümliche Beschaffenheit unterscheiden. Man nennt daher einen Satz, in welchem zu einer ganz einfachen Melodie, z. B. zu einem Choral, eine oder mehrere ebenso einfache Melodien gesetzt werden, das heißt, wenn immer nur Note gegen Note zu stehen kommt, einen gleichen Kontrapunkt. Werden hingegen zu jeder Note eines solchen Gesanges zwei, drei oder vier Noten gesetzt, so wird der Satz ein ungleicher Kontrapunkt genannt. Besteht aber die zu einem solchen Gesange zu setzende Melodie aus Noten von verschiedenem Werte oder von verschiedener Figur, so pflegt man den Satz einen vermischten Kontrapunkt zu nennen. [Koch Handwörterbuch Musik 1807, 96f]