Fuge (1807)

Fuge ist ein bekanntes Tonstück, welches sich durch seine ihm ganz allein eigentümliche Form und Einrichtung von allen übrigen Arten der Tonstücke sehr merklich unterscheidet: Es besteht aus einem Hauptsatz [Thema], welcher durch das ganze Stück hindurch wechselweise von allen dazu gehörigen Hauptstimmen ergriffen und von denselben nach gewissen Regeln vorgetragen oder nachgeahmt wird. Dabei ist die immer auf verschiedene Arten wiederkehrende Nachahmung des Hauptsatzes dergestalt verwebt, dass das Ganze ohne merkliche Absätze und Ruhepunkte und ohne Absonderung einer Hauptperiode von der anderen fortströmt, bis alle Stimmen sich zum gemeinschaftlichen Schlusse neigen.

Vermittelst dieser Einrichtung wird eine Stimme so hervorstechend wie die andere, so dass keine der anderen bloß zur Begleitung dient, sondern jede derselben behaupten den Charakter einer Hauptstimme mit gleichem Rechte.

Bei jeder Fuge kommen fünf Hauptstücke in Betracht:

  1. Der Hauptsatz oder das Thema, oft auch das Subjekt genannt. Es ist der herrschende Satz, welcher durch mannigfaltige Nachahmungen und durch wechselweise Versetzung in alle[n] Stimmen ausgeführt, und weil er den Fugensatz anhebt und gleichsam den übrigen Stimmen zum Wegweiser dient, gewöhnlich der Führer oder Dux genannt wird. - Jede Stimme hat das Recht, mit diesem Hauptsatze die Fuge anzufangen.
  2. Der Gefährte, lat. Comes, oft auch die Antwort genannt, ist die ähnliche Wiederholung des Führers in einer anderen Stimme - und zwar auf anderen Stufen der Tonleiter, die von gewissen Regeln bestimmt werden. In der Fuge ist es nicht genug, dass der Hauptsatz, nachdem er von einer Stimme vorgetragen worden ist, von einer anderen ergriffen und auf willkürlichen Stufen der Tonleiter nachgeahmt wird, sondern diese Nachahmung muss sich auf gewisse Regeln gründen, die bei unserer gewöhnlichen Quintenfuge ihre Ursachen in der Teilung der Oktave oder in der Lage der beiden halben Töne der Tonleiter [Halbtonschritte] haben.
  3. Die Gegenharmonie oder das Kontrasubjekt. Man versteht darunter eigentlich diejenige Melodie, die sich jederzeit, wenn diese oder jene Stimme den Hauptsatz vorträgt, in einer anderen Stimme hören lässt. Gemeiniglich beginnt das Kontrasubjekt da, wo der Gefährte eintritt. Zuweilen vereinigt der Tonsetzer aber auch, aus Ursachen, die hier anzuzeigen zu weitläufig sein würde, das Kontrasubjekt zugleich mit dem Führer.Nächst dem Kontrasubjekte versteht man unter der Gegenharmonie zugleich diejenige Melodie, mit welcher noch außer dem Kontrasubjekte der Hauptsatz in dieser oder jener Stimme in dem Verfolge der Fuge begleitet wird.
  4. Der Wiederschlag, lat. Repercussio, ist die Ordnung, in welcher Führer und Gefährte sich in den verschiedenen Stimmen hören lassen, und die größtenteils von der Teilung der Oktave abhängt.
  5. Die Zwischenharmonie. Man versteht darunter diejenigen kurzen Sätze, die sich, solange der Hauptsatz schweigt, wegen des Zusammenhanges hören lassen, und die der strengen Fuge aus der Melodie des Hauptsatzes oder des Kontrasubjektes hergeleitet sind.

Wenn bei der Fuge bloß das Thema mit seinem Kontrasubjekte bearbeitet wird, so dass die Zwischenharmonie aus dem Hauptsatze oder aus dem Kontrasubjekte genommen ist, so wird sie eine strenge Fuge genannt. Lassen sich hingegen zwischen den Reperkussionen des Hauptsatzes andere Sätze hören, die nicht unmittelbar aus dem Subjekte oder Kontrasubjekte fließen, so nennt man sie eine freie Fuge. Von dieser letzten Art gibt uns die allgemein bekannte Ouverture aus Mozarts Zauberflöte ein fürtreffliches Beispiel.

Wenn die strenge Fuge mit verschiedenen ungewöhnlicheren und künstlichen Nachahmungen und Versetzungen des Hauptsatzes oder des Kontrasubjektes vermischt wird, so pflegen sie alsdann viele eine Ricertata oder eine Kunstfuge zu nennen.

Zuweilen werden in der Fuge zwei oder mehrere Hauptsätze miteinander verbunden, die sich teils einzeln, teils untereinander vermischt hören lassen, und dann bekommt sie den Namen Doppelfuge.

Den ausführlichsten Unterricht von der Einrichtung der Fuge findet man in dem vor kurzem wieder neu aufgelegten Werke von Marpurg – unter dem Titel: Abhandlung von der Fuge ...

Über den Vortrag der Fuge, besonders der strengen Fuge in Oratorien und Kirchen-Kantaten, ist noch zu bemerken, dass sie

  1. mit einem sehr markichten und gut unterhaltenen Tone und auf den Bogeninstrumenten mit einem kräftigen und bedeutenden Striche ausgeführt werden muss;
  2. dass der Eintritt des Hauptsatzes, besonders wenn er ohne vorhergegangene Pause geschieht, sehr merklich herausgehoben werden muss, und
  3. dass keine Note, die an eine vorhergehende Note angebunden ist, und kein Punkt, der auf eine lange Note folgt, markiert werden darf.

[Koch Handwörterbuch Musik 1807, 159f]