Stil (1882)

Stil von Stilus oder Stylus (στύλος [altgriechisch, stylos]), eigentlich Säule, Pfeiler, aber auch der Griffel zum Schreiben, mit dem man also in eine weiche Materie Züge eingräbt, welche so bestimmt sind, dass sie aus der Gesamtmasse entschieden heraustreten. Darnach wandte man das Wort weiterhin als Bezeichnung an für die künstlerische Tätigkeit, die nach einer bestimmten Richtung das künstlerische Darstellungsmaterial in eigentümlicher Weise verwendet. Diese wird ebenso durch dies Material bedingt, wie durch die besonderen, zur Darstellung gelangten Ideen.

Nur die hierauf begründeten Stilarten kommen hier in Betracht. Nicht die Wirkung, welche das Kunstwerk auf Ohr, Herz und Gemüt hervorbringt, sondern nur die besondere Art der Gestaltung des Materials, die nicht nur durch den speziellen Inhalt, sondern auch durch die Natur des Darstellungsmaterials bedingt ist, begründen die besonderen Stilgattungen. Die Natur der die Musik ausführenden Organe, ihr Klangcharakter, Umfang und Technik erfordern zunächst für die verschiedenen auch eine abweichende eigentümliche Behandlungsweise, es entstehen der Instrumental- und der Vokalstil, und jede dieser Hauptarten scheidet sich wieder in Unterarten: der Klavierstil - Orchesterstil - Orgelstil usw. Diese werden durch das veränderte Klangwesen wie die besondere Spielweise jedes Instruments bedingt.

Weitere Stilarten werden dann durch den besondere Formen erzeugenden Inhalt bedingt. Es scheidet sich der kirchliche vom weltlichen Stil. Wie das Bewusstsein von der Nähe Gottes das gesamte Empfinden des Menschengeistes bändigt und läutert, so wird auch den Mächten der musikalischen Darstellung Melodie, Harmonie und Rhythmus in der kirchlichen Musik eine grössere Ruhe und Erhabenheit aufgenötigt, als diese zeigen, wenn sie zur Darstellung weltlicher Stoffe verwendet werden. Namentlich verliert der Rhythmus seine bunte Mannigfaltigkeit und äußerlich treibende Wirkung, die er weltlichen Stoffen gegenüber annimmt; er wird gemäßigter wirkend und mehr im Großen anordnend eingeführt. Aber auch Melodie und Harmonie verlieren an glanzvoller sinnlicher Wirkung, die sie beim weltlichen Stil bewahren, und ganz besonders wird die letztere, die harmonische Gestaltung zu größerer Machtentfaltung und daher innerlich wirkend entwickelt.

Innerhalb dieser Gebiete werden dann die besonderen Stoffe anregend für Entwickelung neuer Stilarten. Wie der Oratorienstil vom Choral- oder Motettenstil geschieden ist und wie diese wieder unter sich andere Richtung gewinnen, ist in den betreffenden Artikeln nachgewiesen. Ganz in derselben Weise entstehen die besondern Arten des weltlichen Stils, unterscheidet sich der Stil der großen Oper von dem der romantischen und der komischen Oper oder des Singspiels; ebenso der Liedstil von dem Rondostil usw. (siehe die betreffenden Artikel).

Besondere ältere Benennungen für einzelne Stilarten sind:
Stilus choraicus, choricus, Stilo coraico, der Tanzstil der Menuett, Sarabande und der Tanzformen im Allgemeinen.
Stilus ecclesiasticus, Stile ecclesiastico, der Kirchenstil.
Stilus familiaris, Stile familiare, die einfache Setzart, Fortschreitung in Akkorden, dessen sich beispielsweise Josquin in seinen "Messe familiari" bediente.
Stilus hvporchematicus, der theatralische Tanzstil, der auch die instrumentierten Tanzlieder in sich begreift.
Stilus legatus, Stile ligato, der gebundene Stil.
Stilus madrigalescus, Madrigalstil.
Stilus melismaticus, der verzierte Stil.
Stilus motecticus, der Motettenstil.
Stilus phantasticus, Stilo fantastico, der freie Instrumentalstil.
Stilus recitativus, Stile rappresentativo drammatico, der dramatische Stil.
Stilus syllabicus, der syllabische Stil, in welchem im Gegensatz zum
Stilus melismaticus jede Textsilbe nur einen Ton erhält, ohne melismatische Ausschmückung.
Stylus [sic] symphoniacus, Stilo sinfoniaco, der sinfonische Stil. [Reissmann Handlexikon 1882, 519]