Musiklexikon: Was bedeutet Sequenz (Liturgie)?

Sequenz, Sequentia, Prosa (1865)

Sequenz, Sequentia, Prosa. Eine Art Hymnus im alten Kirchengesang, Sequenz genannt, weil sie im Graduale (dem nach Vorlesung der Epistel, während der Vorbereitung des Diaconus zum Evangelium, von zwei Priestern an den Stufen des Altares oder Lesepultes intonierten und von der Gemeinde fortgesetzten Responsoriengesange) auf das Alleluja folgte, der Verkündigung des Evangeliums voraufgehend.

Ursprünglich hervorgegangen sind die Sequenzen, und zwar speziell die Messprosen, aus den langgedehnten Neumen oder Jubilos, welche, gleichsam ein rein musikalischer Ausbruch freudiger Begeisterung, ohne Textunterlage, nur auf der letzten Silbe des Alleluja gesungen wurden, die Melodie desselben wiederholend. Näheres siehe Ferd. Wolf, Ueber die Lais, Sequenzen und Leiche (Heidelberg 1841), S. 95f.

Von Notker, dem Stammler (Balbulus, geb. in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts, Benediktiner zu St. Gallen, gest. 912), schreibt sich die entwickeltere Form der Sequenz her, deren Melodie nicht mehr auf einem Vokale neumatisiert, sondern für jeden Ton mit einer Textsilbe versehen und in Sätze gegliedert ist. Prosa heißt sie, weil der Text in Hinsicht auf Metrik anfänglich wenigstens mehr Prosa als eigentlicher metrischer Versbau ist, später werden die Sequenzentexte auch versifiziert und gereimt. Unter den allgemeinen Begriff des Hymnus wird sie ebenfalls schon in früher Zeit gerechnet, weil sie, im Zusammenhang mit ihrem ersten Ursprung, nach Inhalt und äußerer Gestalt das Ansehen eines freien Gefühlsergusses hat. Notker erkannte die Schwierigkeit des Behaltens der langen Neumen ohne Text; indem er über ein Mittel zur Beseitigung derselben nachdachte, gelangte ihm ein Antiphonar zur Kenntnis, worin einige, obwohl fehlerhafte, Strophen zu Sequenzen geschrieben waren. Hierdurch sah er sich veranlasst, andere in dieser Weise aufzusetzen, den melodischen Stoff dazu aus 50 verschiedenen Jubilos auswählend. Auf jede Tonbewegung kam eine eigene Silbe zu stehen, außerdem gliederte er die Melodie in kurze mit Schlüssen versehene Sätze, welche gewöhnlich von zwei Singchören antiphonenmäßig abwechselnd vorgetragen wurden. Der erste und letzte Satz haben selbstständige Melodie, welche in den Mittelsätzen nicht vorkommt. Von diesen Mittelsätzen aber wiederholen sich meist zwei und zwei, doch finden in manchen seiner Sequenzen auch gar keine Wiederholungen statt. Da jede Note ihre eigene Textsilbe hatte, mussten die Abschnitte mit gleicher Melodie auch gleiche Silbenzahl enthalten, weiter aber erstreckte sich die Gebundenheit der metrischen Form auch nicht, bei vielen Sequenzen wird eine solche überhaupt gänzlich vermisst. Spätere sind, wie bemerkt, auch in gereimten Versen, manche werden, ins Deutsche übertragen, als Kirchenlieder gesungen.

Heutigen Tages [um 1865] sind in der katholischen Kirche noch fünf gebräuchlich (Walther führt nur drei und das Dies irae an), nämlich:

  1. Auf Ostern: Victimae paschali laudes, aus dem 11. Jahrhundert, von einigen aber auch dem Notker Balbulus zugeschrieben; mit einer deutschen Übersetzung: Da das Osterlamm sich willig dem Tode weiht, bringt Christen auch ihm Opfer der Dankbarkeit…
  2. Auf Pfingsten: Veni sancte spiritus, nach manchen Angaben von König Robert von Frankreich ([972]-1031), nsch anderen von Hermanus Contractus (gestorben 1054) verfasst.
  3. Zu Fronleichnam: Lauda Sion Salvatorem, von Thomas von Aquino (1224-1274), dem Verfasser der Liturgie des Fronleichnamstages.
  4. Am Feste der sieben Schmerzen Mariä: Stabat mater, von Jacobus de Benedictus (Jacoponus, Franziskaner, gestorben 1306).
  5. Beim Totenamt: Dies irae, am Wahrscheinlichsten von Thomas a Celano (1250). Ursprünglich hatte die Missa defunctorum kein Halleluja, folglich auch keine Sequenz, das Dies irae ist also erst später hineingekommen, Es soll zuerst in den zu Venedig um Mitte des 13. Jahrhunderts neu aufgelegten Missalien enthalten sein.

Näheres siehe Schubiger, Die Sängerschule St. Gallens, 1858, S. 39; Rambach, Anthol. christl. Ges. I, 210; Antony, Lehrb. des Greg. Ges., 1829, S. 72. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 760f]

Sequenz, Sequentia, Prosa (1882)

Sequenz, Sequentia, Prosa, heißen jene alten Kirchengesänge, die, aus dem kirchlichen Volksgesang in Deutschland hervortreibend, hoch bedeutsam für die Entwicklung der Melodik und des Gesanges überhaupt wurden. Als hier seit dem 8. Jahrhundert das Christentum immer größeren Boden gewann, war es zur Notwendigkeit geworden, die Deutschen auch zum gregorianischen Gesang zu erziehen. Dass das nicht so leicht war, bestätigen alle Zeugnisse aus jener Zeit, und weil zugleich dem ganzen Gottesdienste die lateinische Sprache zu Grunde gelegt wurde, mussten die Deutschen fast ganz vom Kirchengesang ausgeschlossen werden. Dieser wurde hauptsächlich von den Klerikern ausgeübt, und dem Volke blieb nur das "Kyrie" und "Alleluja", in deren Gesang es mit einstimmen durfte. Die Vokale des letzteren namentlich wurden dann zu förmlichen Gesangsstudien für die ungefügen Kehlen der Deutschen benutzt, es entstanden so allmählich jene sogenannten "Jubilo" als eine Art Vokalisen, in denen das Volk seine religiöse Begeisterung austönte, zugleich aber auch seine Stimme für den gregorianischen Gesang schulte.

Diese textlosen Gesänge erreichten bald eine solche Ausdehnung, dass sie den Sängern Schwierigkeiten bereiteten, sie auswendig zu lernen und im Gedächtnis zu behalten. Dies hatte namentlich auch Notker Balbulus (siehe dort), einer jener Mönche St. Gallens, die sich unsterbliche Verdienste um die Ausbreitung und Förderung des gregorianuischen Gesanges in Deutschland erwarben, empfunden und er fasste deshalb den Entschluss, die Melodien mit Textworten zu versehen. Ein Prieseter, der 851 aus dem von den Normannen verwüsteten Kloster Gimedia kam, brachte ein Antiphonar mit, das bereits Sequenzen mit Worten enthielt, die indes fehlerhaft behandelt waren. Dies veranlasste den begeisterten Jüngling, bessere Texte zu dichten und diese sogenannten Sequenzen erlangten bald eine große Bedeutung im christlichen Kirchengesang. [Reissmann Handlexikon 1882, 493]