Metrum (1882)

Metrum ist das bestimmte Maß, nach welchem die rhythmische Bewegung der Sprache wie der Musik geordnet wird. Es entwickelte sich unstreitig zuerst am Tanz; denn dieser ist wohl die erste Äußerung des künstlerischen Schaffensdranges. Die Gemeinsamkeit der Bewegung setzt eine gewisse, sich wiederholende Gleichmäßigkeit derselben voraus. Unwillkürlich fühlt sich beim Marschieren jeder Einzelne veranlasst, immer den einen Schritt vor dem anderen auszuzeichnen. Dem ganz gleichen Bedürfnisse entspringen die verschiedenen Tanzformen, bei denen eine bestimmte Anzahl Schritte zu einer Einheit (Pas) dadurch zusammengefasst werden, dass man den ersten etwas auszeichnet und ihm die übrigen unterordnet.

Als die Sprache dann zu einer größern Anzahl von Worten anwuchs, wurde es auch hier notwendig, durch dasselbe Verfahren Ordnung in die ordnungslose Masse zu bringen. Dies geschah in einigen Sprachen durch die Verlängerung dir auszuzeichnenden Silben nach bestimmtem Maß (Quantität), in anderen, wie in der deutschen, indem man die betreffenden, auszuzeichnenden Silben betonte (Akzent). Die Musik adoptierte beide Arten. Sie schloss sich zunächst eng an die Sprache an, indem sie bei den Hebräern und ganz besonders bei den Griechen das wirksamste Mittel wurde, ihre Sprachrhythmik klangvoll herausbilden zu helfen. Als sie sich dann emanzipierte, akzeptierte sie auch jene Quantitätsmessung und die auf ihr beruhenden metrischen Versfüße und suchte diese in ihrer Weise nachzubilden.

Im Artikel "Mensuralnotenschrift" ist gezeigt worden, dass im Bestreben, das trochäische Versmaß nachzubilden, der dreizeitige Rhythmus als der vollkommnere zunächst mit Fleiß ausgebildet wurde und dass erst nach Jahrhunderten der zweizeitige dieselbe Pflege gewinnen konnte. Zur selben Zeit und wahrscheinlich lange vorher wurde auch der akzentuierende Rhythmus beim Gesang geübt. Auf die weitere Entwickelung des Metrums in der Musik wurde die Sprachmetrik nur in untergeordnetem Maße noch einflussreich. Schon der Umstand, dass die reicheren musikalischen Darstellungsmittel eine größere Mannigfaltigkeit der Zusammensetzung zuließen, musste zu anderen Gestaltungsprinzipien führen als den durch die Sprache bedingten. Dort, in dem erwähnten Artikel "Mensuralnotenschrift", ist erwähnt worden, dass die Brevis zur Fixierung der Kürze angenommen wurde und, dem entsprechend, die Longa für die Länge. Allein die feststehend angenommene Dreiteiligkeit der Longa erfolgt schon nicht mehr nach sprachlichem Gesetz, noch weniger aber die Verdoppelung der Longa zur Duplexlonga oder die Teilung der Brevis in Semibreves und die weitere in Minimae, Semiminimae usw. Diese Teilung hatte mit der Prosodie nichts mehr zu tun, aber sie gab die Mittel, jedes einzelne Versmaß in jeder dieser Notengattungen darzustellen. Es erscheint deshalb auch als ein ziemlich unnützes Unternehmen, die verschiedenen Versmaße, und zwar nicht nur die gebräuchlicheren, den Jambus, Trochäus und Anapäst, Spondeus und Daktylus, sondern auch die ungebräuchlicheren, den Kretikus, den Pyrrhichius, Molossus, Tribrachys, Amphibrachys usw., in ihrer Darstellung in Noten zu untersuchen, um so mehr, als jedes einzelne Metrum wieder noch eine sehr mannigfache Darstellung zulässt. Die Sprache hat immer nur die eine Länge und Kürze, während jede Note Länge sein kann, wenn sie noch zu teilen ist, um die Kürze zu erhalten, ebenso wie jede Note Kürze sein kann, wenn sie noch verdoppelt werden kann, um die Länge zu erhalten. Ferner ist mit dieser Vielheit von Werten die Möglichkeit gegeben, jeden einzelnen Versfuß musikalisch aufzulösen, wie den Trochäus:
n
und dieser Prozess ist fast bis ins Unendliche fortzusetzen. Die prosodische Quantitätsmessung hat dabei natürlich allen Einfluss verloren; es ist nur der Akzent, der hier ordnend wirksam ist (siehe Rhythmus). [Reissmann Handlexikon 1882, 276f]