Gesang (1882)

Gesang ist gesteigerte Rede. Je geringer der Affekt ist, welchen der Gesang zum Ausdruck bringt, desto mehr wird derselbe der wirklichen Rede noch nahestehen, so im Parlando, im Rezitativ, überhaupt in einer schlichten erzählenden oder beschreibenden Vortragsweise. Dagegen wird der gesteigerte Affekt die Melodie mehr oder weniger vom Wort und seinem Rhythmus emanzipieren und charakteristische, rein musikalische Ausdrucksformen annehmen, so in den Jubilationen des Hallelujagesangs der ältesten christlichen Kirche, so im wortlosen Jodler des Naturgesangs, so im kolorierten Gesang der Kunstmusik, besonders in der Oper.

Eine Grenze zu ziehen, wie weit die Steigerung des musikalischen Elements der Sprache (der Vokalisation, welche Trägerin des Tonfalls ist) gehen darf, ist nicht möglich. Ganz unberechtigte Willkür ist es, die Koloratur zu verbannen. Dagegen muss man allerdings eine übermäßig gehäufte Anwendung derselben von ästhetischen Gesichtspunkten aus verwerfen. Die Koloratur ist die höchste Steigerung des Akzents und muss als solche behandelt werden (Wagner hat auch hier das Rechte getroffen; wo bei ihm Melismen auftreten, kennzeichnen sie Höhepunkte der Situation). Ein zur Illustration des Gesagten vorzüglich geeignetes Beispiel ist die große Arie der Agathe im "Freischütz" - wer möchte in den Koloraturen des abschließenden Allegro "All meine Pulse schlagen" etwas Unnatürliches finden? [Riemann Musik-Lexikon 1882, 303]