Cantabile (1865)

Cantabile, singend, sangbar, gesangreich, nennt man solche melodische Sätze, die durch einen abgerundeten fließenden Zusammenhang ihrer Tonschritte, durch besondere Biegsamkeit des ganzen Tonganges sich auszeichnen und den Eindruck des rein Unmittelbaren und Unwillkürlichen machen, als könnten sie nur so wie sie sind und nicht anders sein.

Sowohl in dem harmonischen Fluss ihrer Tonschritte als auch in der natürlichen, ursprünglichen, anscheinend [scheinbar] durchaus kunstlosen Art ihres ganzen Habitus, welche darum noch keineswegs die tiefste Innigkeit und den bedeutendsten Ausdruck ausschließt, jederzeit aber als Produkt eines wahren und lebhaften Gefühls erscheinen wird, liegt das, was man Sangbarkeit nennt. Der Sänger kann solche sangbare Partien ohne viele Vorbereitung – hinsichts des Treffens der Intervalle sowohl als der Auffassung des Inhalts – leicht ausführen; nicht als ob die Intervallschritte auch immer nur die allereinfachsten und fasslichsten wären, sondern im Wesentlichen, weil Tongang und Ausdruck, als treffende klare Aussprache eines wirklich lebhaft Empfundenen, so naturgemäß wahr und harmonisch, daher bei aller etwaigen Bedeutsamkeit doch so leicht anschaulich erscheinen, dass derartige Sätze dem Sänger gleichsam wie von selbst in die Stimme fließen. Die durch die charaktervolle Unmittelbarkeit der ganzen melodischen Gestaltung nach bestimmter Richtung hin und in bestimmter Weise erfolgte Anregung seines Tongefühls hilft ihm über etwaige Schwierigkeiten der Intonation und des Vortrages unvermerkt hinweg (siehe Melodie).

Mögen mit cantabile bezeichnete Sätze für Singstimmen oder Instrumente geschrieben sein, sie verlangen stets einen fließenden, natürlichen und dabei durchaus gebundenen Vortrag sowie mäßige Klangstärke und keine zu scharfen Kontraste. Kommt der Ausdruck ohne ein das Zeitmaß näher bestimmendes Wort als Überschrift eines Tonstücks vor, so zeigt er, außer der eben bemerkten Vortragsart, jederzeit auch eine mäßig langsame Bewegung an. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 135]