Altchristliche Musik (1929)

Altchristliche Musik. Dass die Wurzeln der altchristlichen Musik im Orient zu suchen sind, ist seit langer Zeit bekannt. Die [um 1930] neuesten Untersuchungen, die sich auf vergleichende Liturgieforschung stützen, ergeben aber, dass die herrschende Theorie, der altchristliche Gesang habe sich aus dem jüdischen Tempelgesang einerseits, der altgriechischen Musik anderseits entwickelt, ungenau ist. Aus der Tatsache der griechischen Amtssprache in Syrien und Palästina darf man nicht schließen, dass diejenigen, die sich ihrer bedienten, wirklich Griechen gewesen seien. Aber auch der jüdische Einschlag darf nicht als rein semitischer angesehen werden. Die Juden hatten unter der babylonischen Herrschaft vieles aus dem Kult dieses Volks übernommen. Vor allem aber waren die babylonischen Hymnen von großem Einfluss auf die hebräische Hymnendichtung, die Psalmen. Der altchristliche Gesang ist also ein Produkt der synkretistischen Bewegung, wie die gesamte Kultur dieser Zeit. Seine erste große Entfaltung erlebt er in Syrien, Kleinasien und Ägypten. Von Syrien aus verbreitet er sich nach Armenien und Georgien einerseits, nach Persien andrerseits.

In einer späteren Zeit ist dann mit dem Nestorianismus, dessen kunstschöpferische Kraft besonders in der Hymnendichtung und Musik hervorgehoben wird, eine Welle christlicher Kunst von Persien über Ostturkestan nach China gekommen.

Syrien und Kleinasien waren auch für die Verbreitung des altchristlichen Kirchengesangs nach dem Abendland wichtig. Hier sind es folgende Wege, auf denen er Eingang fand. über Byzanz nach dem Balkan und Russland; über Ravenna nach Italien (wie die Tatsache beweist, dass der Wechselgesang aus Antiochia nach Mailand drang); über Marseille nach Südfrankreich und der Schweiz; über die spanische und irische Küste nach dem Innern dieser Länder. Diese Tatsache spielt bei der Bestimmung, wie sich die einzelnen Neumenschriften genetisch zueinander verhalten, eine wichtige Rolle und wird auch bei der Vergleichung der Entwicklungsstadien der gregorianischen Gesänge von Bedeutung sein.

Die altchristlichen Gesänge sind keine Kunstschöpfungen, sondern Volkslieder. Daher sind die nationalen Einschläge bei den syrischen, koptischen, armenischen usw. Gesängen sehr stark. Das älteste datierbare Stück altchristlicher Musik ist der neuerdings aufgefundene Hymnus von Oxyrhynchos, etwa vom Ende des 3. Jahrhunderts. In ihm mischen sich bereits die hellenischen Elemente mit orientalischen. über diesen Hymnus vgl. H. Abert (ZfMW. IV); O. Ursprung, Bull. de la Soc. Uno mus. IIl, 1923, erweitert in Theologie und Glaube, Paderborn 1926. Vgl. Egon Wellesz, Aufgaben und Probleme auf dem Gebiete der byzantischen und orientalischen Kirchenmusik (1923). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 33f]