Akzentuierende Dichtung (1929)

Akzentuierende Dichtung nennt man die Silben wägende, nicht lange und kurze, sondern schwere (akzentuierte) und leichte (akzentlose) Silben unterscheidende Versbildung, welche, wie es scheint, der hebräischen Sprache ursprünglich eigen, durch die Bibelübersetzungen in den ersten Jahrhunderten des Christentums Eingang in die bis dahin skandierende (Silben messende) griechische Poesie und weiter auch in die lateinische fand (die aber vielleicht vor dem griechentümelnden augusteischen Zeitalter selbst schon akzentuierend gewesen ist), und weiterhin in die Dichtung der romanischen Völker. Die germanischen Dichter haben wohl niemals skandiert. Da sowohl das griechische Altertum als das ganze Mittelalter die Rhythmik in den Gesängen nicht bezeichnete (vgl. Griechische Musik, Byzantinische Musik, Gregorianischer Gesang, Choralrhythmus, Troubadoure, Minnesänger, Meistersinger), so ist natürlich eine richtige Erkenntnis der leitenden Prinzipien der Versbildung die Vorbedingung für die Rekonstruktion der Rhythmik der antiken und mittelalterlichen Melodien. Noch immer [um 1930] ist der Streit über diese Fragen ein ziemlich lebhafter (vgl. die Literatur zu den oben genannten Artikeln). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 22]