Volkslied, das für den Gesang gedichtete und wirklich gesungene Erzeugnis der Volkspoesie. Diese, hervorgegangen aus dem Wesen und der Eigentümlichkeit der Auffassungsweise einer Nation und den innersten Geist derselben wiederspiegelnd, bildet den Gegensatz zu der Kunstpoesie. Auch bei den Völkern, wo die Kunstpoesie sich entwickelt, geht die Volkspoesie immer voraus und erhält sich auch nachher neben jener. Während die Kunstdichtung von dem gebildeten Teil des Volkes ausgeht, gehen die Volkslieder aus dem Teile des Volkes hervor, den wir als die ungebildete Masse jenen entgegengesetzten [sic. entgegensetzen], in dem aber die nationale Eigentümlichkeit sich am schärfsten erhält.
Bei allen Völkern finden wir Volkslieder, aber nicht bei allen gelangt die poetische Kraft zu gleich mächtiger und reicher Entwicklung. Das Gemeinsame aber haben die Lieder aller Völker, dass sich in ihnen die besondere Form, in der das Allgemein-Menschliche bei ihnen erscheint, scharf und treu ausprägt, und dass uns daher aus ihnen der Charakter der Völker, denen sie angehören, in großer Wahrheit und Bestimmtheit entgegentritt. Die Volkslieder, für den Gesang bestimmt, finden sich stets in Begleitung der zu ihnen gehörigen Melodien, die nur dann, und auch nicht immer, verloren gingen, wenn das ursprüngliche Lied aus dem Gedächtnis des Volkes verschwand und nur zufällig durch Schrift aufbewahrt wurde. Daraus ergibt sich auch von selbst, dass die lyrische Form bei aller Volkspoesie die überwiegende sein muss; doch schließt dieselbe alle anderen Gattungen der Poesie, die epische wie die didaktische, ja selbst die dramatische, ein.
Die Natur des Volksliedes bringt es mit sich, dass sich meist weder der Verfasser, noch die Zeit der Entstehung ermitteln lässt. Die Fälle, wo sich der Dichter wirklich nennt, sind äußerst selten. Auch findet sich ein Volkslied sehr selten in seiner ältesten Gestalt vor, weil sich Text und Weise meist nur durch Überlieferung fortgepflanzt und erhalten haben, daher wir auch oft ein und dasselbe Lied in sehr verschiedener Gestalt wiederfinden. Merkwürdig ist oft die Ähnlichkeit, welche häufig zwischen den Volksliedern sehr entfernter Völker stattfindet. Der Wert der Volkspoesie beruht vorzüglich darauf, dass sie der reine naturgemäße Ausdruck des Gefühls und der Lebensanschauung des Menschengeschlechts in den einzelnen Nationen ist, daher nichts Geborgtes, Gemachtes oder Gekünsteltes enthält.
Nicht zu verwechseln ist die wahre Volkspoesie mit jener Poesie des Volkes, die wir gewöhnlich mit dem Namen "Gassenhauer" bezeichnen. Letzteres ist zwar ebenfalls ein freies Erzeugnis des Volks, aber nie aus dessen Gefühl, sondern stets nur aus dessen Verstand hervorgegangen und, da sie nur vorübergehende Interessen behandelt, selbst auch nur von vorübergehendem Interesse. Historische Lieder, die den Übergang von der einen zur anderen Gattung bilden, besonders aus späterer Zeit, werden häufig mit angehängten, nachgedichteten Versen zu Gassenhauern gemacht. Wiewohl ohne allen poetischen Wert, sind sie doch für die Erforschung der Gedichte und besonders der Sittengeschichte und des Bildungsganges einer Nation von hoher Bedeutung.
Verfolgen lässt sich die Geschichte des Volksliedes nur bei wenigen Völkern, und selbst bei diesen bleibt sie immer in hohem Grade fragmentarisch.
Die Deutschen waren schon in den ältesten Zeiten ein sanglustiges und liederreiches Volk. Den Stoff ihrer Lieder nahmen sie aus der Götter- und Heldensage etc. Die Völkerwanderung verschlang wohl die meisten dieser alten Lieder; dagegen lieferte sie einen gewaltigen neuen Sagenstoff. Erhalten ist von der Volksdichtung dieses Zeitraums ein Bruchstück: "das Hildebrandslied".
Im 9. Jahrhundert wirkte die höfische Kunstpoesie veredelnd auf die Volksdichtung, und wir haben aus dieser Zeit das "Nibelungen- und Gudrunslied". Voller und reicher erblühte später die lyrische Volkspoesie und schon im 14. Jahrhundert gab es zahlreiche Lieder dieser Gattung, die sich ziemlich eng an die Weise des Minneliedes der schwindenden Kunstlyrik anschlossen. Eine ziemliche Anzahl von Volksliedern dieser Periode wurde bereits im 14. und 15. Jahrhundert niedergeschrieben und noch weit mehr gegen Ende des 15. und im Anfange des 16. Jahrhunderts. Was noch im 17. Jahrhundert an neuen Volksliedern hinzutritt, z. B. während des 30-jährigen Krieges, ist größtenteils ungeschlacht und gar nur platte Reimerei. Bessere Lieder aus dieser Zeit oder aus dem 18. Jh., wie "Prinz Eugenius, der edle Ritter" (1717), gehören zu den seltenen Ausnahmen. Bereits in der Mitte des 16. Jh. entstanden in den Niederlanden, Italien und Deutschland die sogenannten "Gesellschaftslieder", lyrische Kunstdichtungen verschiedenen Inhalts.
Der heutige Volksgesang [um 1880] hat eine lebendige Quelle nur noch in den Alpen. Die erste Sammlung deutscher Volkslieder von umfassender Art erschien unter dem Titel: "des Knaben Wunderhorn" 1808 von Brentano und Arnim. Wenn von dem Volksliede für die Schule die Rede ist, so heißt Volk, wie Herder sagt, nicht der Pöbel auf den Gassen, der singt und dichtet nicht, der schreit nur und verstümmelt. - Eine sehr brauchbare methodische Behandlung des Volksliedes in der Volksschule ist vorhanden von Ed. Förster, betitelt: "Das Volkslied in der Volksschule". [Riewe Handwörterbuch 1879, 283f]