Tongedächtnis (1929)

Tongedächtnis d. h. die Fähigkeit, Musikstücke in der Erinnerung so zu bewahren, dass man imstande ist, sie in der Phantasie zu reproduzieren, ist in geringer Vollkommenheit (als Behalten einer Melodie und deren sofortiges Wiedererkennen) allgemein verbreitet, kann aber durch besondere Beanlagung und anhaltende Übung außerordentlich gesteigert werden. Das Tongedächtnis ist nicht durchaus an die absolute Tonhöhe gebunden, aber doch wohl ursprünglich von ihr nicht unabhängig. In höherer Stufe künstlerischer Entwicklung tritt dieser Zusammenhang aber auffällig in den Hintergrund, und ist die Reproduktion eines im Tongedächtnis festgehaltenen Werkes in beliebiger Tonhöhe möglich, so dass nicht eigentlich das Sinnlich-Klangliche, sondern vielmehr das Formale behalten erscheint. Vgl. Absolutes Ohr.

In der kindlichen Entwicklung fallen Ausbildung des Tonsinns und Entstehung der Sprache keineswegs zusammen. Tracy stellte fest, dass bei vielen Kindern sich der Tonsinn schon vom 6. Monat entwickelt; ein Kind des Psychologen Stumpf kannte mit 14 Monaten die Tonleiter; ein Sohn des Komponisten Dvořák sang mit einem Jahr einen Militärmarsch und konnte mit 11/2 Jahren Melodien singen, wenn sein Vater sie auf dem Klavier begleitete.

Eine Hauptstütze für das Gedächtnis ist die Erfassung des Hauptgedankens, ferner müssen alle Stellen beachtet werden, auf denen der eigentliche Gedankenfortschritt ruht. Neben diesem objektiv wichtigen Punkte sind es vor allem die subjektiv für den Lernenden am leichtesten verständlichen Teile des Stückes, von deren Einprägung die Gedächtnisarbeit ausgeht. Unterstützend wirkt der Rhythmus: Je leichter der rhythmische Fluss des Satzes ist, desto leichter ist der Inhalt zu behalten und umgekehrt. Einzelne auffallende Stellen fixieren die Aufmerksamkeit und werden dadurch leichter eingeprägt. Hemmend wirkt die Aneinanderreihung relativ zahlreicher kurzer, motivisch nicht verbundener Sätze; aber auch das andere Extrem, die übermäßige Länge, ferner Indispositionen des Lernenden, Ermüdung, Unlustgefühl, Widerwillen und dgl. Vgl. E. Meumann, Ökonomie und Technik des Gedächtnisses (4. Aufl. 1919). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1865]