Polytonalität (1929)
Polytonalität (Mehrtonart) durch Gegeneinanderführung zweier oder mehrerer Stimmen oder Stimmgruppen in verschiedenen Tonarten ist als [um 1930] neues Gestaltungsmittel in der jüngsten musikalischen Entwicklung ausgebildet worden. Die Abhängigkeit der kontrapunktischen Stimmführung von den vertikalen Bindungen, wie sie ihren theoretischen Ausdruck in der den Gestaltungswillen des 19. und der letzten zwei Drittel des 18. Jahrhunderts zusammenfassenden Formulierung durch Riemann dahin gefunden hat, dass die Erfindung der Gegenmelodien das intuitive Erfassen des harmonischen Inhalts des Cantus firmus voraussetzt, so dass die Gegenstimme "im Banne dieser Erkenntnis" entsteht (vgl. Kap. Kontrapunkt), sucht die Musik der Gegenwart [um 1930] zu durchbrechen. Die Polytonalität ist eines der hauptsächlichen Mittel für den anders gerichteten Gestaltungswillen geworden, da sie die Harmonik in mehrere nebeneinander verlaufende funktionelle Entwicklungszüge aufspaltet und so mit den Mitteln der Harmonik das beabsichtigte Übergewicht der horizontal wirkenden Kräfte der kontrapunktischen Stimmen noch fördert. Die gleichzeitige Darstellung von zwei verschiedenen funhtionellen Abläufen findet sich jedoch auch in der bisherigen Kunstmusik bereits als legitimes Gestaltungsmittel, und zwar in der Form des Orgelpunktes (siehe dort), und die Entwicklung der neuen Technik der Polytonalität lässt den Zusammenhang damit überall deutlich erkennen (vgI. z. B. die Pezzi infantili von A. Casella). Ist das Ziel der polytonalen Technik der auf die Darstellung der Tonalität (s. d.) gerichteten Hauptidee der Musik der letzten zweihundert Jahre auch insofern gegensätzlich gerichtet, als in dieser das lineare Geschehen die Einheit im funktionellen Ablauf der Zusammenklänge zur Voraussetzung hat, während die Polytonalität die Zusammenklänge durchaus von den linearen Konsequenzen der einzelnen Stimmen abhängig macht, so erweist sich schließlich doch auch die Polytonalität nur als eine neuartige Nutzanwendung von in der Tonalität bereits eingeschlossenen Möglichkeiten. Sie hebt die Bedeutung des Begriffs der Tonalität als einer elementaren Erkenntnisgrundlage für die Logik musikalischer Gestaltung in keiner Weise auf, sondern folgt derselben Gesetzmäßigkeit. Auch in der Polytonalität offenbart sich die Notwendigkeit, die übereinandergestellten Tonarten so zu wahlen, dass von ihnen ein gemeinsamer Tonalitätskreis umschrieben wird. Die Idee der Einheit der Tonalität erscheint also in der Polytonalität gewissermaßen in Tiefenprojektion dargestellt, ein Kunstmittel, das erst durch die Klärung des Tonalitätsbegriffes in den rund dreihundert Jahren der voraufgegangenen musikalischen Epoche zugänglich geworden ist. Kontrapunkt und Polytonalität müssen demnach als wesensverwandte Kunstmittel gelten. Ob aus ihrer Verbindung wesentliche neue Gestaltungsmöglichkeiten hervorgehen können, wird die weitere Entwicklung erst zu erweisen haben. Nach der bisherigen Technik des polytonalen Satzes muss es noch fraglich bleiben, ob kompliziertere funktionelle Abläufe überhaupt gleichzeitig nebeneinander verständlich dargestellt werden können, auch bietet die Literatur [um 1930] noch keine Beispiele für eine wirklich durchgeführte Gleichzeitigkeit von mehr als zwei Tonarten. Polytonale Harmonisierung wirkt im Allgemeinen lediglich als mixturartige Verschärfung der Hauptstimmen, die dadurch stärker gegeneinander individualisiert werden, ohne dass zugleich ein polytonales Geschehen im eigentlichen Sinne dargestellt erschiene. Stehen die Stimmen zueinander im tonalen Verhältnis, so bleibt die polytonale Harmonisierung vollends färbende Zutat. Für die polytonalen Kombinationen sind Tonarten bevorzugt, die als Parallel- oder Dominanttonarten besonders leicht aufeinander beziehbar bleiben, oder aber Tonarten im Halbtonabstand mit gegenseitiger Bindung durch das Leittonverhältnis. Zwischen wirklicher Polytonalität mit funktioneller Durchführung der verschiedenen Tonarten und ohne Überwiegen einer einzelnen, die sonst als Grundtonart die Frage der Tonalität entscheiden würde, sowie der vorübergehenden Anwendung von Doppelharmonien finden sich alle erdenklichen Zwischenformen. [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1411f]

