Perotinus, Magister (1929)
Perotinus, Magister mit dem Beinamen "der Große" (Magnus), Kapellmeister an Beatae Mariae Virginis zu Paris, der berühmteste Repräsentant der Pariser Notre-Dame-Schule, dessen Name uns durch Anon. IV (einen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts schreibenden Engländer) erhalten ist.
Die Rhythmik Leonins (siehe dort) erfährt bei Perotinus eine Erstraffung. Einerseits dominiert die binäre und quadratische Zusammenfassung der ternären "Taktwerte" in den Oberstimmen, andrerseits wird die Grundstimme da, wo sie nicht lange Orgelpunkte bildet, gern rhythmischen Formeln unterworfen, die so starr sind, dass z. B. bei der Wiederholung der betreffenden Partie die Melodie mit einem anderen als dem ersten Ton der rhythmischen Gruppe beginnen kann. Perotinus geht ferner insofern über Leonin hinaus, als er über die Choralmelodie nicht nur eine, sondern zwei und drei Oberstimmen setzt (ist darum aber nicht der erste, der dreistimmig schrieb, da dies bereits um 1140 in dem musikalisch zum St. Martialkreis in enger Beziehung stehenden Santiago de Compostella geschieht). In diesen drei- und vierstimmigen "Choralbearbeitungen" ist besonders die Kunst der variierenden Wiederholung und der thematischen Verknüpfung in den Oberstimmen bemerkenswert; dies sind die - mit dem heutigen Begriff der "thematischen Arbeit" freilich nicht ohne weiteres identischen - Colores, von denen außer Anon. IV auch der ältere Johannes de Garlandia spricht. Anon. IV bezeugt ferner, dass Perotinus sich auch auf dem Gebiet des Conductus (siehe dort) betätigte. Mit der Geschichte der Motette (siehe dort) ist Perotinus jedenfalls insofern enge verknüpft, als wir viele von ihm komponierte "Ersatzteile" zu Choralbearbeitungen, außer der melismatischen auch in der in den Oberstimmen syllabisch textierten Form, kennen.
Vgl. Coussemaker, L'art harmonique aux XIIe et XIIIe siècles (aus Cod. H. 196 von Montpellier); H. E. Wooldridge im ersten Band der Oxford History of Music (aus dem von W. Meyer entdeckten Original der von dem Anon. IV Coussemakers, Script. I, beschriebenen Sammlung von drei- und vierstimmigen Arbeiten des Leoninus und Perotinus, dem sogenannten Antiphonarium Medicaeum, Bibl. Laurentiana zu Florenz, Pal. 29, I); Friedr. Ludwig, Perotinus Magnus (Archiv lür MW. III, 4, 1921); ferner ZfMW. V, 448ff und in Adlers Handbuch; J. Handschin, Schweizer. Jahrbuch für MW. II, 1927; ferner ZfMW. X; R. v. Ficker, in Neue Musikzeitung 1928, Heft 2; auch Gastoué, Les primitifs de la musique française (Paris 1922). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 1370f]