Nachahmung (1882)

Nachahmung (Imitation) ist eins der wesentlichsten Bildungsgesetze der musikalischen Kunst. Wie in der Architektur ein Säulenkapitäl, eine Rosette und letzten Endes der ganze Kunstbau eines Doms sich aus der Verarbeitung einer beschränkten Anzahl von Motiven ergibt, so lässt sich auch in der Musik ein prägnantes Thema, ein ganzer Satz in der Regel aus der Wiederholung weniger kleiner Motive erklären. Diese Wiederholung ist freilich nicht nur eine schlichte Reproduktion, wie sie es in der Architektur häufig ist, wo ein Achtel oder Viertel der Rosette oder des Kapitäls den anderen völlig kongruent ist, oder wo dutzende von Säulen, Türmchen, Fenstern etc. die gleichen Dimensionen aufweisen; vielmehr tritt an Stelle der Gleichheit eine mehr oder minder hervortretende Ähnlichkeit, an Stelle der Wiederholung die Nachahmung.

Da eine größere Anzahl ästhetischer Gesetze gleichzeitig die musikalische Bildung bestimmen, so erscheint die Nachahmung in sehr verschiedenartiger Gestalt. Das melodisch-rhythmische Motiv kann ganz getreu wiederholt werden, aber durch die begleitende Harmonie jedesmal einen anderen Sinn erhalten, oder das Motiv wiederholt sich genau, aber mit verschiedener Akzentuation, besonders wenn es sich nicht mit dem Takte deckt, oder das Motiv wiederholt sich von anderer Tonstufe aus etc. Die Wiederkehr eines Motivs auf anderer Tonstufe ist bei weitem die häufigste Form der Nachahmung; ihr entspringen ebensowohl die kunstvollen Formen des Kanons und der Fuge (siehe dort) als die als dilettantisch oder handwerksmäßig verurteilten "Schusterflecke" (siehe dort).

In der Blütezeit des imitierenden Stils (15.-16. Jahrhundert) hatte man die Kunst der Nachahmung zu einer fast unglaublichen Höhe entwickelt, freilich vielfach auf Kosten des Ausdrucks und der schönen Klangwirkung (vergleiche Kontrapunkt); wenn auch ein gut geschulter Komponist selten auf die sich darbietenden imitatorischen Kombinationen verzichten wird, so sind doch heute die Imitationen selbst bei Meistern wie Lachner ein interessantes Beiwerk und nicht mehr Kern und Selbstzweck.

Die wichtigsten Arten der Nachahmung sind:

  1. Die Nachahmung in paralleler Bewegung
  2. die Nachahmung in Gegenbewegung (Umkehrung)
  3. die Nachahmung in der Verlängerung (Augmentation)
  4. die Nachahmung in der Verkürzung (Diminution)

Jede der beiden letztgenannten kann mit jeder der beiden ersten kombiniert werden. Die Kontrapunktiker des 15.-16. Jahrhunderts benutzten außerdem noch die umgekehrte Notenfolge (Krebskanon, das Ganze von hinten nach vorn gelesen, ein insofern wertloses Kunststück, als der Hörer den Krebskanon nicht erkennen kann) und ersannen somit noch allerlei Spielereien (Überspringen der Pausen oder der kleinen (schwarzen) Notenwerte etc.). [Riemann Musik-Lexikon 1882, 617f]