Mensuralmusik (1877)

Mensuralmusik, Mensuralgesang, Figuralmusik, Musica mensurabilis sive figuralis, Canto misurato. Wie oben erwähnt [unter Mensur], bezeichnet man damit die Musik, bei welcher die Töne verschiedenen Zeitwert haben, der ihnen nach einem vorher fest bestimmten Zeitmaß zuerteilt wird, zum Unterschied von der Musica plana, dem Cantus choralis der Choralmusik, bei welchem die Töne einerlei Geltung haben.

Zwar kannte gewiss der ambrosianische Gesang im vierten Jahrhundert, wie der Gesang der Hebräer und Griechenden, Wechsel von Tönen mit verschiedenem Zeitwert, allein dieser wurde nur durch die sprachliche Rhythmik bedingt, war an die Prosodie gebunden. Auch der gregorianische Cantus planus, der sich von der Prosodie lossagte und zu selbstständiger melodischer Entfaltung gelangte, behielt die zur Darstellung der Länge und Kürze notwendigen zwei Notenzeitwerte bei, um bei den metrisch gegliederten Gesängen die Zeilenschlüsse auszuzeichnen. Aber sonst sind seine Melodien aus Tönen von gleichem Wert zusammengesetzt, und nur die vorletzte Silbe erhielt häufig eine doppelzeitige Note, um die Zeilenschlüsse zu markieren. So lange der gregorianische Gesang einstimmig geübt wurde, bedurfte er keine strengere Messung. Daher genügte auch zur Aufzeichnung dieser Melodien die Notenschrift, welche schon ein äußeres Bild vom Gang derselben gab, die sogenannten Neumen (siehe dort). Als aber die Mehrstimmigkeit sich zu entwickeln begann und als seit dem 12. Jahrhundert schon der Hauptstimme, welche die Choralmelodie als "Tenor" führte, sich eine zweite, später eine dritte und vierte mit selbstständig mensuriertem Gesang gegenüberstellten, da wurde es absolut notwendig, den Zeitwert der Töne einer jeden Stimme genau zu bestimmen, und so entstand die Mensuralnotenschrift - als das natürliche Produkt der ganzen Entwicklung.

Figuralmusik wurde diese neue Art des Gesanges wohl weniger deshalb genannt, weil die Notengattungen durch verschiedene Figuren dargestellt wurden, denn dann könnte auch der Cantus planus so heißen, die Neumen sind ja gleichfalls Figuren, wenn auch andere; sondern deshalb, weil er nicht ein ebener, Cantus planus ist, sondern ein figurierter, Cantus figuralis. Denn das ist ja das wesentlichste Unterscheidungsmerkmal desselben, dass er dem gleichmäßig dahin ziehenden Choral reicher figurierten Gesang entgegenstellt. Unsere moderne Musik ist in diesem Sinne Figural- und Mensuralmusik, aber dennoch bezeichnet man nur die entsprechende Musik des 14. bis 16. Jahrhunderts damit, die dort als besondende Gattung eingehende Pflege gewann. [Mendel/Reissmann Musikalisches Lexikon 1877, 128]