Interpretation, musikalische (1929)

Interpretation, musikalische. Als musikalische Interpretation kann man die Summe oder vielmehr das Ganze all der Belebungen im Vortrag eines Musikstückes bezeichnen, die im Artikel Ausdruck (siehe dort) charakterisiert sind. Der Komponist hat in den Notenzeichen die lebendige Gestalt seiner Schöpfung nur andeutungsweise fixieren können. Die Nachschöpfung aus diesem Notenbild heraus durch den Sänger, Spieler, Dirigenten heißt Interpretation. Aus der Annäherung an jene vom Komponisten gemeinte Idealgestalt ergibt sich die Qualität der Interpretation. Der Subjektivität des Ausführenden ist dabei ein ästhetisch durchaus berechtigter, freilich begrenzter Spielraum gelassen. Die Schwierigkeit der richtigen Interpretation vergrößert sich in dem Maße, als das wiederzugebende Werk entweder vom Komponisten nur mangelhaft bezeichnet ist, oder aus Zeiten stammt, die unserer geläufigen Musikübung ferne liegen: zwei Umstände, die meist zusammenfallen. In früheren Zeiten hat man Musikstücke der Vergangenheit einfach dem lebendigen Zeitstil angepasst: man hat im 17. Jahrhundert A-cappella-Werke mit einem B. c. versehen, also "konzertant" gespielt. Im Zeitalter des B. c. hat man den rein monodischen gregorianischen Gesang durch Akkorde begleitet. Mozart hat Händelsche Oratorien neu instrumentiert, und noch Rob. Franz Bachsche und Händelsche Werke mit modernisierter Orchesterbegleitung versehen.

Zu einer stilgetreuen Interpretation gehört jedoch die originalgetreue Wiedergabe, die freilich aus schöpferischem Gefühl neu belebt werden muss. So hat sich auf Grund geschichtlicher Erkenntnis für Werke bestimmter Stilperioden eine Aufführungspraxis herausgebildet, die, für das 14. und 15. Jahrhundert noch unsicher (vgl. jedoch R. v. Fickers und J. Handschins, Wil. Gurlitts und G. Beckings Versuche), vom 16. Jahrhundert an auf ziemlich sicherem Boden steht. Wir kennen heute die wechselnden Bedingungen für die Aufführung der Werke der sogenannten A-cappella-Periode, die instrumentale Verdoppelungen in weitem Maß gestattet, für den venezianischen Chorstil, für die Periode Bachs und Händels, die (vor allem bei Bach) die im XIX. Jahrhundert übliche vokale Massenbesetzung verbieten. Man vgl. Gg. Schünemann, Geschichte des Dirigierens (1913); für Bach besonders L. Landshoff, Vortrag beim Münchner Bachfest I927 (gedruckt in Die Musik 1928). [Einstein/Riemann Musiklexikon 1929, 810]