Choral (1840)

Choral (lateinisch: Cantus firmus, italienisch: Corale, auch Canto fermo, französisch: Plain-chant), die Melodie, nach welcher die geistlichen Lieder beim öffentlichen Gottesdienst von der ganzen Gemeinde gesungen werden. Sie besteht aus lauter einfachen, sich langsam fortbewegenden melodischen Hauptnoten, die weder mit Nebennoten verziert, noch in einem genau abgemessenen Zeitmaß vorgetragen werden, wodurch sie den Charakter des Feierlichen, des Ernstes und der Würde, der das Herz zu frommen Empfindungen stimmt, erhält.

Damit eine große Versammlung, ohne Kunstvorbereitung, solche an sich schon einfachen Melodien einstimmig absingen könne, wurde der Umfang, den sie in einer Tonart einnehmen dürfen, auf acht, höchstens neun Töne festgesetzt. Die Tonzeichen sind bei dem Choralgesang mehrenteils in Ansehung der Zeitgröße einander gleich, jedoch werden sie in der Ausführung nicht in völlig gleicher Dauer ausgeübt, sondern erhalten die Verschiedenheit ihrer inneren Quantität mehr durch die Länge und Kürze der damit verbundenen Textsilben, als durch einen taktmäßigen Fortschritt. Viele Jahrhunderte hindurch, bis zur Erfindung der Harmonie, ward der Choral einstimmig gesungen, meist auch jetzt noch [um 1840] überall, doch häufig auch schon von Chorsängern vierstimmig, wie auch von der Orgel abwechselnd mit Posaunenmusik vierstimmig begleitet.

Die Zeit der Erfindung des Choralgesanges lässt sich nicht bestimmen. Er kann aber wohl nicht viel jünger sein, als der Ursprung der christlichen Religion. Vermutlich sind die ältesten Choräle Überbleibsel der alten griechischen Musik, deren sich die ersten Christen in ihren gottesdienstlichen Versammlungen bedienten. Hilarius, Bischof zu Poitiers (in der Mitte des vierten Jahrhunderts), ist der erste, von dem man mit einiger Zuversicht weiß, dass er für die abendländische Kirche besondere Hymnen gedichtet und dazu eigene Melodien verfertigt hat. Gegen das Jahr 380 führte der Bischof Ambrosius den Choralgesang in den vier ersten authentischen Tonarten der Griechen ein. Im siebten Jahrhundert fügte Papst Gregor I. die vier plagalischen hinzu und setzte die bekannten acht Kirchentöne fest. Die schönste Blüte des Choralgesanges trat mit Luther ein und dauerte bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Später wurde er aber wieder verfälscht und dermaßen verändert, dass fast in jeder Gegend eine Abweichung stattfindet, dass ferner manche der Melodien, wie sie jetzt [um 1840] gebraucht werden, ganz und gar ein mixtum compositum aus einzelnen Teilen der vier verschiedenen Stimmen und die alten Choräle um Zweidrittel verschieden sind von den neueren.

Neuerdings bemüht man sich, diese den Originalmelodien, so weit es auszumitteln ist, wieder näher zu bringen. Namentlich hat sich Friedrich Schneider, der aus Beruf wie aus Neigung seit langen Jahren dem Choralwesen und dem Kirchengesang überhaupt viele Aufmerksamkeit widmete, in dieser Hinsicht großes Verdienst erworben. Auch ist dereinst mehr noch von ihm zu erwarten, da er bei manchen Vorarbeiten und im Besitz vieler schätzenswerter, einer umsichtigen Forschung verdankten Materialien, die Absicht hat, eine zu kunsthistorischem Zweck systematisch geordnete Sammlung aller vorhandenen Choralmelodien zu veranstalten, die von vielfachem Interesse sein dürfte. [Gathy Encyklopädie Musik-Wissenschaft 1840, 69]