Romantisch (1882)

Romantisch ist der Gegensatz zu klassisch, in der Bedeutung, welche letzteres Wort heute hat (mustergültig, Form und Inhalt im Gleichgewicht); das Überwuchern der Subjektivität, ein starkes Hervortreten des Gefühls, der Leidenschaft, Ungebundenheit der Phantasie sind Kennzeichen des Romantischen. Wie der Klassizismus der Poesie historisch aus der Versenkung in die (klassischen) Meisterwerke der Griechen und Römer hervorging, deren Formvollendung unsre Dichter sich anzueignen strebten, so entsprang die Romantik der Begeisterung für das Mittelalter, das man von der Seite des Phantastischen, Abenteuerlichen und Schwärmerischen auffasste. Allerdings liegt in dem von religiöser Musik durchtränkten Mariendienst und Gralsrittertum einerseits wie dem Minnedienst andererseits, in dem Durcheinandergehen altheidnischer Anschauungen mit den durch das Christentum eingeführten etwas ungemein Anregendes für die Phantasie, und nur der nüchterne Historiker und Politiker erkennt durch diese Nebel unfertiger Gebilde die schlimmen Schattenseiten des Zeitalters. Aller Romantik haftet daher etwas von dieser Unklarheit und Verworrenheit an. Sie ist ein bewusstes Hinabtauchen unter das Niveau der klaren Verstandestätigkeit und geregelten Formengebung, ein Freigeben der Phantasie, der elementaren Gestaltungskraft ohne die strenge Zügelung durch die konventionellen Gesetze. So kommt es denn, dass die Romantiker Neues bringen, die Kunst bereichern, die Ausdrucksmittel vertiefen. In diesem Sinn ist jeder Künstler ein Romantiker, der die gewordenen Kunstformen und Kunstgesetze ignoriert und ganz frei aus sich heraus neue schafft, ein Klassizist dagegen der, welcher die Kunstgesetze aufspürt und sie mit Bewusstsein innehält und vervollkommt. Romantik ist daher stets Sturm und Drang, Klassizismus dagegen Abklärung. Die Musikgeschichte weist so gut wie die Literaturgeschichte wiederholt Sturm- und Drangperioden auf, wenn dieselben auch heute nicht mehr so klar als solche kenntlich sind. Die Chromatiker des 16. Jahrhunderts (Gesualdo, Vicentino) waren ganz bestimmt für ihre Zeit von einer ähnlichen Bedeutung wie ein Schubert, Schumann für die unsre. Auf dem Gebiet der Instrumentalmusik dürfte vielleicht Ph. E. Bach als Romantiker zu bezeichnen sein, während ihm gegenüber Haydn und Mozart wieder als die Vollender, die Klassiker erscheinen.

Heut versteht man unter Romantikern speziell die nachbeethovenschen Komponisten, welche nicht einfach in dessen Fußstapfen traten, sondern die von ihm gegebenen Anregungen für die Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmittel ausgiebig ausbeuteten (Weber, Schubert, Spohr, Marschner, Schumann). Mendelssohn ist kaum noch ein Romantiker, die Tendenz der Abklärung ist bei ihm zu hervortretend. Mit voller Macht brach dagegen die Romantik wieder durch bei den sog. Neuromantikern: Berlioz, Liszt, Wagner, die man indes wohl kaum mit Recht von den Romantikern der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts unterscheidet. Liszt ist durch und durch ein Schüler Schuberts, und Wagner wurzelt fest in Weber; Berlioz aber gehört schon der Zeit seines Schaffens nach unbedingt zu den ältern Romantikern. Als einziges Kennzeichen der Neuromantik bleibt das Zerbrechen der symphonischen Form auf instrumentalem Gebiet und der Arienform in der Oper. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 777f]