Musiklexikon: Was bedeutet Reminiszenz?

Reminiscenz (1882)

Reminiscenz [heutige Schreibweise: Reminiszenz], das aus der Erinnerung Geschöpfte, das Entlehnte, nicht eigen Erfundene. Beim Kunstwerk bezeichnet man damit jene Partien, welche der schaffende Künstler nicht aus dem eigenen Innern gestaltet, sondern die in der Phantasie nach dem Genuß eines fremden Kunstwerks haften geblieben und dann durch die nachbildende Hand des Künstlers in die neue Schöpfung herübergekommen sind.

Es sind im Grunde nicht direkte Nachahmungen, sondern nur Anklänge, die sich in der angegebenen Weise unbewusst dem Künstler aufdrängen, und sie finden sich daher selbst bei den größten und originellsten Meistern. Diese stehen nicht isoliert da, sie wachsen gewissermaßen aus der historischen Entwicklung heraus, schließen eng an die vorangehenden Meister an, fassen aber auch zugleich die vereinzelten Bestrebungen der kleineren Meister einheitlich zusammen, und so kann es nicht fehlen, dass einzelne ihrer Werke nicht nur au die großen Vorgänger, sondern zuweilen selbst an kleinere Mitlebende erinnern. Das ist ja die Aufgabe der großen Meister, dass sie die Bewegung weiter fortführen und die in verschiedene Richtungen sich verflüchtigende einheitlich zusammenfassen. Diese müssen sie sich aber erst selbst zu eigen machen, und so ist es erklärlich, dass einzelnes Fremde auch in das Kunstwerk des Meisters übergeht, das nicht vollständig zum Eigentum desselben werden konnte.

Diese Reminiszenzen unterscheiden sich wesentlich von den Nachahmungen. Während der Meister das Fremde aufnimmt, um durch dasselbe angeregt und befruchtet zu werden, bleibt dies dem Nachahmenden immer ein Fremdes, Äußeres, das er nur mechanisch nachbildet oder wohl gar einfach abschreibt. Die Reminiszenz wird zur bewussten, und diese ist wertlos. [Reissmann Handlexikon 1882, 427]