Passage (1802)

Passage bezeichnet im engeren Sinne des Wortes die ähnliche Fortsetzung einer Notenfigur durch verschiedene [mehrere] Takte oder die weitere Ausführung eines Gedankens in ähnlichen Notenfiguren. Zuweilen bezeichnet man damit auch einen melodischen Satz, in welchem die melodischen Hauptnoten auf verschiedene Arten zergliedert und mit vielen Nebennoten vereinigt sind. Im weitläufigsten Sinne versteht man darunter das Gegenteil von dem Cantabeln [sic. Kantablen] - oder solche Tonreihen, deren Vortrag viel mechanische Fertigkeit erfordert.

Die Passagen sind gemeiniglich das Steckenpferd der Konzertspieler.* Sie gehörig zu würdigen und ihren ästhetischen Wert ganz genau zu bestimmen, würde bei unserer luxuriösen Musik eine weitläufigere Kritik erfordern, als hier stattfinden kann. Daher anjetzt nur einige beiläufige Bemerkungen über den Wert derselben.

So wenig eine Solostimme Anspruch auf den ästhetischen Wert machen oder dem Zwecke der Kunst entsprechen kann, in welcher eine Passage die andere gleichsam jagt und in welcher sie nur vorhanden sind, um dem Ausführer derselben Gelegenheit zu geben, seine mechanischen Fertigkeiten zu zeigen, ebenso wenig kann der gute Geschmack Ursach haben ihren Gebrauch zu missbilligen, weil es Empfindungen gibt, die durch zweckmäßige Passagen Stoff zur Unterhaltung gewinnen. Wie vorteilhaft kann z. B. bei dem Ausdrucke einer Empfindung, die sich mit einer gewissen Heftigkeit äußert, und zwar da, wo sie sich in eine gewisse Spannung des Gefühls modifiziert, das kühne Daherrauschen einer Passage wirken! Wenn daher durch die Passagen der Charakter oder der Ausdruck des Tonstückes nicht verdunkelt oder gar entstellt wird, wenn sich die Passage mit dem Inhalte des ganzen Tonstückes vereint, oder wenn während des Vortrages derselben die Begleitung den Hauptsatz oder einen Zwischensatz des Ganzen hören lässt, kurz, wenn die Passagen so bearbeitet und so ins Ganze verflochten sind, wie sie zum Exempel ein C. Ph. E. Bach oder ein Mozart in ihre Konzerte verwebten, dann sind sie sicher dem guten Geschmacke nicht entgegen und leiten sicher die Vorstellung von dem Zwecke nicht auf Nebensachen. Sind im Gegenteile die Passagen einer Solostimme so beschaffen, dass ein feines Gefühl jeder derselben zurufen möchte: Freund! Wo bist du herein gekommen? - das heißt, wenn die Passagen mit dem ganzen Inhalte der Solostimme nichts gemein haben, als das Notenblatt, auf dem sie stehen, oder wenn statt der vorhandenen Passage jede andere da sein kann, die ihr in Ansehung der Tonart, Taktart und Bewegung substituiert werden kann, wenn sie weiter nichts sind, als entweder ein Schaugerichte mechanischer Fertigkeit oder ein Mantel, der den Mangel der Folge guter kantabler Sätze verhüllt, dann haben sie sicher keinen ästhetischen Wert und sind weiter nichts als ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.

Der gute Geschmack verwirft daher nicht den Gebrauch, sondern bloß den Missbrauch der Passagen. Dieser Missbrauch hat größtenteils seinen Grund in dem Mangel eines feinen Geschmacks des größeren Haufens. Dieser Mangel erzeugte oder begünstigte wenigstens den Wahn, als gehöre zum Vortrage mechanischer Schwierigkeiten mehr Künstler-Virtu [sic], als zum guten Vortrage des Kantablen. Daher der Beifall, mit dem man glücklich überwundene Schwierigkeiten krönt und oft den guten Vortrag des Sangbaren mit Gleichgültigkeit überhört; und eben daher der Nachteil, dass der Tonkünstler geneigt wird, oder wohl gar, um seinen Unterhalt zu gewinnen, genötigt ist, mit dem Strome zu schwimmen und seinen Fleiß größtenteils auf Ausübung der Schwierigkeiten zu wenden, worüber mehrenteils der Vortrag des Sangbaren zu sehr vernachlässigt wird. Den Beweiß für diese Behauptung gibt die große Menge der Tonkünstler, die bei Schwierigkeiten glänzen und am Adagio scheitern.

1 In der Arie bedient man sich anjetzt [um 1800], die sogenannte Bravour-Arie ausgenommen, weit weniger Passagen, als in dem älteren Geschmacke. Ohne Zweifel haben wir die Vermeidung des öftern [häufigen] zwecklosen Gebrauches derselben beim Gesange dem Übergewichte zu verdanken, welches die komische Oper über das ernsthafte gewonnen hat.
[Koch Musikalisches Lexikon 1802, 1140ff]