Melodie (1882)
Melodie bezeichnet jetzt eine nach bestimmten ästhetischen Gesetzen geordnete Tonfolge, im Gegensatz zur Harmonie, welche mehrere Töne zu Gesamtklängen verbindet. Damit ist zugleich die Verschiedenheit der Wirkung beider angedeutet. Diese ist bei der Melodie weniger materialistisch als bei der Harmonie. Der rein sinnliche Klang des Tons erscheint bei jener mehr zurückgedrängt durch die Wirkung der besondern Idee, die sich in ihrer Anordnung kund tut. Dabei gewinnt sie in dem anordnenden Rhythmus noch besondern ideellen Reiz. Die Akkorde dagegen erscheinen, dieser Idee gegenüber, noch mehr als ungeformtes Rohmaterial, dem erst durch Melodie und Rhythmus, mit der höheren künstlerischen Form die Idee aufgenötigt werden muss. Dies geschieht natürlich durch die Homophonie, bei welcher die Hauptstimme nur die Melodie führt, weniger als durch die Polyphonie, welche das harmonische Material in durchaus selbstständigen Stimmen vorführt.
Weiterhin unterscheiden wir genau die Vokalmelodie von der Instrumentalmelodie. Jene muss die durch die Sprachakzente dargestellte Sprachmelodie, in der bereits ein Teil des Gefühlsgehalts Ausdruck gefunden hat, mit aufnehmen, so dass sie selber nur als gesteigerte Sprachmelodie erscheint, und sie muss bei metrischen Gesängen zugleich das Versgebäude nachbilden, in welchem der Inhalt bereits Gestalt angenommen hat. Die Instrumentalmelodie ist selbstverständlich an derartige Beschränkungen nicht gebunden, sie ist frei heraus zu gestalten nur nach allgemein ästhetischen Gesetzen. [Reissmann Handlexikon 1882, 264]