Fliessend (1865)
Fliessend [heutige Schreibweise: Fließend], eine der Anlage und Form des Kunstwerkes notwendige ästhetische Eigenschaft. Sie besteht darin, dass die in demselben herrschende Empfindung natürlich organisch, ohne Sprünge, Stockungen, Störungen, scharfe Gegensätze und ohne Beimischung von Fremdartigem, dessen Zusammenhang mit dem Hauptinhalt erst mit Hilfe einer den Gang der in uns erweckten Empfindung unterbrechenden Reflexion erkannt werden muss, sich entwickelt, und dass Form und Ausdruck solcher Abrundung und einheitlichen Fortentwicklung des Inhaltes entsprechen.
Insgemein verbindet man mit dem Begriff des Fließenden den des Leichten und Angenehmen, und es ist auch ganz richtig, dass an Kunstwerken, welche diese letzteren Eigenschaften besitzen, Mangel an klarem Fluss mehr in die Augen fällt als an solchen, deren Wesen Erhabenheit, Pathos, Leidenschaftlichkeit ist, und die unser Gefühl so stark erregen, dass es kleinere Unebenheiten in Anlage und Form nicht bemerkt. Nichtsdestoweniger muss auch in diesen letzteren die Gedankenfolge ungezwungen sein, und wenn entfernter liegende Modifikationen der Hauptempfindung auftreten, die Verbindung derselben miteinander jederzeit auf solche Weise vermittelt werden, dass der Fluss des Gedankenganges nicht gewaltsam unterbrochen erscheint, sondern ein Zusammenhang stets erkennbar bleibt. Übrigens können auch ganz plötzliche Hemmungen der Gefühlsbewegung, namentlich in Tonstücken von leidenschaftlichem Charakter, stattfinden, gleich als ob der Strom der Leidenschaft eine andere Bahn sich bräche. Doch wird hierdurch, wenn ein Zusammenhang nur irgend sich herausfühlen lässt, der Fluss noch nicht notwendigerweise unterbrochen, auch der Kontrast stört ihn nicht, wenn er ein einheitlicher ist. Wohl aber jede Art von Unterbrechung durch Dinge, die man als mit dem Grundgedanken nicht im Zusammenhang stehend empfindet. Mangel an Fluss in der Form zeugt von Ungeschicktheit in der Anlage, Fortspinnung der Gedanken und Behandlung der Ausdrucksmittel.
Ist übrigens auch das Fließende, als Beweis natürlicher unbeirrter Empfindung und geschickter Darstellung, eine nicht nur angenehme sondern durchaus notwendige Eigenschaft des Kunstwerkes, so bestimmt es allein doch noch lange nicht den Wert desselben. Ein Tonwerk kann vollkommen glatt und leicht dahinfließen und wird demungeachtet doch nur sehr geringes Interesse erwecken, wenn sein Inhalt schwach und unbedeutend ist, während man weit eher einem sonst gehaltvollen Werke einen oder den anderen kleinen Verstoß gegen Fluss und Abrundung verzeiht. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 308]