Contrappunto alla mente (1872)
Contrappunto alla mente (italienisch; lateinisch: Contrapunctus a mente non a penna; französisch: Chant sur le livre), das ist der Kontrapunkt aus dem Stegreife, war ein mehrstimmiger Kontrapunkt, der von den Sängern frei improvisiert, nicht aber vorher ausgearbeitet und aufgeschrieben wurde.
Die Erklärungen, welche man für diese außerordentlich klingende Sache bei Baine, Pater Martini, J. A. Herbst, Rousseau, André usw. findet, sind sämtlich ziemlich dunkel. Es scheint überhaupt dieser Kontrapunkt auf mehrere Arten ausgeübt worden zu sein. Baini bezeichnet den mehrstimmig improvisierten Contrappunto alla mente, wie ihn die Sänger und später sogar mit diesen die Instrumentalisten ausführten, als die schimpflichste Ausartung der Musik. Der Sänger Silvio Ganassi soll ihn zu Ende des 15. Jahrhunderts in der Art in den Kirchengesang eingeführt haben, dass eine der Stimmen einen Kontrapunkt in sogenannten Diminutionen aus dem Stegreife anbrachte, während die anderen die vorgeschriebenen Noten sangen. Der französische Fleurtis oder die Fleurettes im Déchant (siehe Discantus) mögen etwas dem ähnliches gewesen sein. Ungeachtet schon Papst Johann XXII. in seiner berühmten Bulle Docta Sanctorum alle improvisierten Kontrapunkte verpönt hatte, hielt sich doch der Contrappunto alla mente bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts hinein und wurde selbst in der päpstlichen Kapelle an allen Festtagen angewendet. [Mendel Musikalisches Lexikon 1872, 607]