Tondichter (1882)

Tondichter nennt man den Komponisten, den Schöpfer eines Tonstücks, weil er in Tönen dichtet. Es ist bezeichnend für die Eigenart der beiden Künste: der Poesie und der Tonkunst, dass man diesen Begriff nur auf sie und nicht auch auf die anderen Künste anwendet, dass man nicht auch, oder doch nur sehr vereinzelt von einem Farbendichter, niemals aber von einem Stein- oder Metalldichter spricht. Der Sprachgebrauch stützt sich hier auf das intimere Verhältnis, in welchem Dichtkunst und Tonkunst zur Phantasie stehen. Diese hat beiden anderen Künsten, der Malerei, der Skulptur und Architektur, nicht minderen Anteil, als bei der Poesie und Musik, allein doch in anderer Weise. Die sogenannten bildenden Künste finden ihre Anleitung und zum großen Teil selbst die Formen für ihre Schöpfungen meist in der äußeren Natur vor, die sie dann mit der anschauenden Phantasie erfassen und künstlerisch gestalten. Für die Poesie und noch mehr für die Tonkunst muss dagegen die produktive Phantasie erst Stoffe und größtenteils auch die Formen schaffen, und diese Tätigkeit heißt eben dichten. Auch wo die bildenden Künste ihre Stoffe der produktiven Phantasie entnehmen, wo sie der Traumwelt des Märchens sich zuwenden, sind sie doch überall zugleich auch an die Formen und Vorgänge der konkreten Welt gebunden. Sie vermögen wohl phantastische Stoffe darzustellen, aber, durch das Material, in welchem sie bilden, genötigt, immer in Formen, die der realen Welt entstammen. Das Material, in welchem Dichtkunst und Tonkunst darstellen, Laut und Ton, ist dagegen an und für sich wesenlos und daher auch ganz geeignet zur Darstellung jener erdichteten Welt des Träumens, der schaffenden Phantasie, wie der gesamten lebendig wirkenden Innerlichkeit des Menschen. Der schaffende Geist dichtet, indem er dies Leben der Phantasie zu Bildern verdichtet und ihnen dann tönenden Ausdruck in Worten oder in Tönen und Klängen gibt. So wird der Komponist zum Tondichter.

Dem Wortlaut nach ist der Komponist (von componere = zusammensetzen, ausarbeiten) noch kein Dichter, sondern zunächst nur der mit der Technik seiner Kunst vertraute Verfertiger des Kunstwerks. Erst darin, dass dieses einen wirklich dichterischen Inhalt bringt, der von der Phantasie und der ganzen Innerlichkeit des Menschen gleichmäßig erzeugt ist, zeigt sich der Tondichter. [Reissmann Handlexikon 1882, 562f]