Sequenz, Sequentia, Prosa (1882)

Sequenz, Sequentia, Prosa, heißen jene alten Kirchengesänge, die, aus dem kirchlichen Volksgesang in Deutschland hervortreibend, hoch bedeutsam für die Entwicklung der Melodik und des Gesanges überhaupt wurden. Als hier seit dem 8. Jahrhundert das Christentum immer größeren Boden gewann, war es zur Notwendigkeit geworden, die Deutschen auch zum gregorianischen Gesang zu erziehen. Dass das nicht so leicht war, bestätigen alle Zeugnisse aus jener Zeit, und weil zugleich dem ganzen Gottesdienste die lateinische Sprache zu Grunde gelegt wurde, mussten die Deutschen fast ganz vom Kirchengesang ausgeschlossen werden. Dieser wurde hauptsächlich von den Klerikern ausgeübt, und dem Volke blieb nur das "Kyrie" und "Alleluja", in deren Gesang es mit einstimmen durfte. Die Vokale des letzteren namentlich wurden dann zu förmlichen Gesangsstudien für die ungefügen Kehlen der Deutschen benutzt, es entstanden so allmählich jene sogenannten "Jubilo" als eine Art Vokalisen, in denen das Volk seine religiöse Begeisterung austönte, zugleich aber auch seine Stimme für den gregorianischen Gesang schulte.

Diese textlosen Gesänge erreichten bald eine solche Ausdehnung, dass sie den Sängern Schwierigkeiten bereiteten, sie auswendig zu lernen und im Gedächtnis zu behalten. Dies hatte namentlich auch Notker Balbulus (siehe dort), einer jener Mönche St. Gallens, die sich unsterbliche Verdienste um die Ausbreitung und Förderung des gregorianuischen Gesanges in Deutschland erwarben, empfunden und er fasste deshalb den Entschluss, die Melodien mit Textworten zu versehen. Ein Prieseter, der 851 aus dem von den Normannen verwüsteten Kloster Gimedia kam, brachte ein Antiphonar mit, das bereits Sequenzen mit Worten enthielt, die indes fehlerhaft behandelt waren. Dies veranlasste den begeisterten Jüngling, bessere Texte zu dichten und diese sogenannten Sequenzen erlangten bald eine große Bedeutung im christlichen Kirchengesang. [Reissmann Handlexikon 1882, 493]