Lied (1879)
Lied (franz.: chant, chanson), bezeichnet die Hauptart der lyrischen Dichtungsgattung. Es ist im Allgemeinen als diejenige poetische Form zu charakterisieren, in welche die Empfindung des Dichters am unmittelbarsten und einfachsten zum Ausdruck gelangt. Mit den angegebenen Merkmalen hängt es zusammen, dass keine Art der Poesie ein so inniges Verhältnis zur Musik hat, als das Lied.
Im eigentlichen Sinne bezeichnet das Lied nur solche Dichtungen, die sich als durchaus singbar darstellen und gleichsam auf den Gesang angewiesen, erst durch diesen zu vollständiger Wirkung gelangen; oder solche, die einen Reichtum an musikalischen Elementen gewissermaßen in sich tragen und darum die Unterstützung durch die wirkliche Tonkunst weniger bedürfen. Zu den die Ergänzung durch jene entschieden erfordernden Liedern gehören alle echten Volkslieder, als Muster der letzterwähnten selbstständigen Art sind die besten Lieder Goethes zu betrachten.
Regelmäßige Merkmale des eigentlichen Liedes sind fernerhin: Einfachheit des Strophenbaus und Abwesenheit pointiver [sic] Gedanken. Der wahre Charakter des Liedes ist, wenn in ihm die lebendigste Empfindung den innigsten und schlichtesten Ausdruck gefunden hat. Unter den Einteilungen derselben je nach der Verschiedenheit der Richtungen, in welchen sich die dichterische Empfindung bewegt, ist eine der durchgreifendsten die Unterscheidung des Liedes in das geistliche und weltliche. Jenes zerfällt wiederum in das Kirchenlied und das geistliche Lied im weiteren Sinne. Wesentliches Erfordernis des Kirchenliedes ist Sangbarkeit und Volkstümlichkeit. Es hat die Bestimmung für den Gottesdienst der Gemeinde und erfüllt seinen Zweck dann am vollkommensten, wenn es den religiösen Empfindungen den erbaulichen Ausdruck gibt. Solche Lieder gab es zuerst im 13. Jahrhundert, aus welchen wir einige wahrhaft volksmäßige Ostern- und Pfingstlieder haben. Aus dem 14. und 15. Jahrhundert sind uns zahlreiche Nachbildungen lateinischer Kirchengesänge erhalten. Das echte deutsche Kirchenlied aber wurde erst durch Luther ins Leben gerufen, wie überhaupt das Reformationszeitalter das Beste und Meiste dieser Art hervorbrachte. Seit dem hat das Kirchenlied nicht wieder recht gedeihen wollen, und selbst Gellerts beim Gottesdienst viel gesungene Lieder entbehren häufig der Haupterfordernisse des wahren Kirchenliedes und gehören wie alle verwandten Dichtungen der neueren Zeit dem geistlichen Liede im weiteren Sinne an. Die Anfänge des letzteren, in deutscher Zunge, reichen in die Zeit des beginnenden Minnegesangs, aus der wir geistliche Dichtungen in Liederform haben. Reichlicher tritt das geistliche Lied im 14. und 15. Jahrhundert auf.
Das weltliche Lied tritt in den mannigfaltigsten Gattungen auf, unter denen das Liebeslied numerisch weit überwiegt. Neben ihm begegnen wir am häufigsten Trink-, Wander-, Jäger-, Tanz-, Vaterlands-, Natur-, Wiegenlieder etc. In eigentlicher Blüte erscheint das deutsche Lied seit dem 13. Jahrhundert. Die Erzeugnisse des Minnegesangs gehören der Gattung des Liedes an. Im Volke selbst hat auch während der Zeit des tiefsten Verfalls der Kunstpoesie die Freude am weltlichen Lied und der schöpferische Trieb zur Hervorbringung des Volksliedes (siehe dort) fortgedauert.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fand das Lied besondere Pflege bei den Angehörigen des Göttinger Dichterbundes. Die stürmischen Tage der Freiheitskriege riefen begeisternde Gesänge hervor, die von Mund zu Mund getragen, die Vaterlandsliebe entflammten. Hierzu gehören: Kriegs-, Schlacht-, Siegeslieder. [Riewe Handwörterbuch 1879, 147f]