Hiatus (1865)

Hiatus (Spalt, Gähnung), Terminus der Dichtkunst, das Zusammentreffen zweier Vokale, von denen der erste den Schluss des vorangehenden, der zweite den Anfang des folgenden Wortes ausmacht. Obgleich unschön, weil die Aussprache störend, ist er doch zuweilen unmöglich zu vermeiden. In Versen wird er dadurch aufgehoben, dass der erste Vokal, gleichviel ob kurz oder lang, elidiert d. h. im Vortrag ausgestoßen [ausgeschlossen] wird. So spricht man statt "sapere aude" oder "mota anus urna": "saper'aude" und "mot'anus urna".

Etwas Ähnliches findet bei schnellem Sprechen auch in der gewöhnlichen prosaischen Rede statt. Durch die dazwischenstehende aspirata h wird der Hiatus übrigens nicht aufgehoben, man spricht "toller'humo" statt "tollere humo". Kommt ein Hiatus innerhalb desselben Wortes vor, so werden die beiden Vokale, wenn gleichlautend, gern in einen einfachen langen kontrahiert ("deero" – "dēro"). Verschiedene Vokale werden mitunter in einen Mischlaut zusammengezogen (Synaeresis genannt, z. B. in "deinde", "huic" etc.).

In der Musik richtet sich seine Behandlung nach dem Text. Ist dieser Prosa, so wird der Hiatus häufig nicht beachtet, man singt seine beiden Vokale auf zwei Noten. Im versifizierten Text hingegen muss die Elision dem Metrum entsprechend erfolgen, wenn die Längen und Kürzen des Verses richtig eingehalten werden sollen. So würde es fehlerhaft sein, in dem Verse "non ti prometto_amor" zu den Vokalen o und a zwei Noten zu setzen, sie als zwei Kürzen statt als eine Länge zu behandeln, weil die Deklamation dadurch an Gewicht verliert. Es muss also heißen wie unter Notenbeispiel b), nicht wie unter a):

Hiatus (Dommer 1865)

Hiatus, Notenbeispiel

Im Deutschen kommt der Hiatus zwar auch vor, doch finden Elision oder Zusammenziehung der Vokale, wie im Lateinischen, nur sehr selten statt. Nur wenige deutsche Worte endigen mit anderen Vokalen als mit e, welches entweder ausgesprochen oder apostrophiert wird. Im Lateinischen und Italienischen ist er häufig, und es sind für den Tonsetzer einige Kenntnis der Sprache und Prosodie erforderlich, um keine Verstöße dagegen zu begehen. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 426]