Aesthetik (1882)
Aesthetik [heutige Schreibweise: Ästhetik]. Als "Wissenschaft vom Schönen" hat sie sich mit den Grundbedingungen und der Bedeutung der Kunst im Allgemeinen und des Kunstwerks im Besonderen zu beschäftigen. Wenn auch Ästhetik und Theorie vielfach aufeinander Bezug nehmen müssen und, sich gegenseitig ergänzend, ineinander greifen, so sind sie doch beide in ihren Zielen wesentlich verschieden. Die Theorie, um es mit wenigen Worten anzudeuten, lehrt das Kunstwerk machen, sie ist die Unterweisung im Formen und Bilden. Die Ästhetik lehrt es genießen und den Künstler hiermit zugleich es erfinden. Die Theorie beschäftigt sich zunächst mit den Mitteln der Darstellung, sie sucht den schaffenden Künstler über die Natur derselben aufzuklären und ihm jene Herrschaft über diese zu vermitteln, welche allein fähig macht, sie im künstlerischen Sinne zu verwenden. Bei dieser Verwendung zum Kunstwerk aber handelt es sich um Darstellung eines bestimmten Inhalts, mit welchem sich wiederum die Ästhetik zu beschäftigen hat und so tritt nun diese mit hinzu, um dem Künstler das Ziel seiner schöpferischen Tätigkeit zu zeigen. So bedarf auch die Theorie der Ästhetik. Diese wird demnach zum Gesetzbuch für den schaffenden Künstler, aber auch für den genießenden Laien, dem sie in derselben Weise den rechten Genuss am Kunstwerk gewinnen hilft. Freilich muss sie sich aber auch dann mit dem Kunstwerk beschäftigen und nicht nur mit dem Eindruck, den dies hervorbringt. Dieser ist bekanntlich von den verschiedensten, außerhalb des Kunstwerks liegenden Einflüssen und Zufälligkeiten abhängig, so dass er nur äußerst selten sicher zu bestimmen ist. Darnach stellt sich als Aufgabe der Ästhetik als Wissenschaft heraus: dass sie das Wissen von der Kunst und dem Kunstwerk vermittelt und verbreitet, um dadurch dem Künstler Zweck und Ziel seines Schaffens vor Augen zu stellen, dem genießenden Laien aber jenen Standpunkt gewinnen zu helfen, von dem aus er das Kunstwerk rein und voll aufzunehmen im Stande ist, ohne die in seiner eigenen Individualität gesetzten Störungen und Trübungen.
Die Ästhetik muss dem Künstler die Schöpfung, dem Laien den Genuss des Kunstwerks erleichtern und das kann sie nur erreichen, indem sie das Wissen von demselben verbreitet. [Reissmann Handlexikon 1882, 10f]